Was Christen oder Muslime glauben, das ist in groben Zügen so ziemlich jedem geläufig. Dagegen ist in der Öffentlichkeit so gut wie nichts darüber bekannt, was konfessionsfreie Menschen denken und für „glaubwürdig“ halten. Das ist eigentlich erstaunlich, bilden sie doch in Deutschland mehr als ein Drittel der Bevölkerung, in Berlin zum Beispiel stellen sie die übergroße Mehrheit dar.
Eine repräsentative Befragung des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Frühjahr 2016 ergab für Berlin, dass sich 61 Prozent der Berliner als konfessionsfrei, 21 Prozent als evangelisch und neun Prozent als Mitglied der katholischen Kirche bezeichneten. In den restlichen neun Prozent sind Muslime, Juden und rund 50 weitere Religionsgemeinschaften enthalten.
Konfessionsfreie vertreten mehrheitlich eine Weltanschauung, die sich bewusst von Religion und einem über allem stehenden Gott abgrenzt. Eine Minderheit unter ihnen ist zwar aus der Kirche ausgetreten, betrachtet sich aber oft noch in irgendeiner Weise als religiös.
Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen halten sich vornehm zurück, wenn es um die Darstellung des Denkens und Handelns nichtreligiöser Menschen in Deutschland geht. Dabei ist in allen Staatsverträgen, die zwischen jedem Bundesland und den jeweiligen Rundfunk- und Fernsehanstalten geschlossen wurden, ausdrücklich festgeschrieben, dass diese über alle relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen und über alle relevanten gesellschaftlichen Ansichten und Meinungen angemessen zu berichten hätten. Aber lediglich die „staatstragenden“ Religionen haben Vertreter in den Medienräten.
Und von denen verfügen fast nur die christlichen Kirchen über eigene Redaktionen und feste Sendezeiten. Diese besitzen somit trotz aller behaupteten Trennung von Staat und Religion ein staatlich gewährtes Privileg. Daher ist es verständlich, dass in oben erwähnter Emnid-Befragung 54 Prozent der interviewten Berliner sich durch die Medien und die Politik nicht ausreichend über die große Gruppe der Konfessionsfreien informiert fühlen.
Humanist, ohne es zu wissen
Die Emnid-Studie erbrachte hinsichtlich der Einstellung der kirchlich organisierten Bürger höchst bemerkenswerte Einsichten und ließ erkennen, wie wenig lebensbestimmend christliche Auffassungen selbst bei Kirchenmitgliedern noch sind. Eine der zu beantwortenden Aussagen lautete: „Ich führe ein selbstbestimmtes Leben, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht und frei ist von Religion und Glauben an einen Gott“. Überwältigende 74 Prozent der befragten Berliner stimmten mit einer solchen humanistischen Lebensauffassung überein.
85 Prozent der Konfessionsfreien stimmten dieser Aussage zu, aber auch 57 Prozent der Katholiken und 64 Prozent der Protestanten äußerten, ein Leben „frei von Religion und Glauben an einen Gott“ zu führen! Und sicher wird für viele gläubige Leser ein weiteres Ergebnis der Umfrage als irritierend empfunden, dass nämlich mit steigendem Bildungsgrad die Zustimmung zu humanistisch-säkularen Lebensauffassungen wächst, das heißt, zu religiösen Ansichten abnimmt. Ein Phänomen, das von allen großen Städten in Deutschland bekannt ist.
Was heutige Humanisten denken, von welchen Wertvorstellungen sie ausgehen, ist besonders unter Gläubigen weithin unbekannt. Allenfalls assoziiert man die Ablehnung von Religion und die Verneinung der Existenz eines Gottes. Verbunden sind diese Auffassungen oft mit der Unterstellung, dass religionslose, erst recht atheistisch eingestellte Menschen keine Moral kennen würden, da sie sich keiner göttlichen Macht gegenüber verpflichtet fühlen.
Auch die Moral hat eine Evolution hinter sich
Offenbar nimmt man an, dass moralische Prinzipien, die unser Tun und Unterlassen regeln, nur in Gott verankert sein könnten. Tatsächlich kann die Soziobiologie zeigen, dass auch Moral sich evolutionär entwickelt hat. Denn wie anders ist es zum Beispiel zu erklären, dass die Kernsätze der Zehn Gebote weltweit verbreitet sind, unabhängig von Religion und Gottesvorstellung. Aber auch Menschen können Normen des Verhaltens vereinbaren und auf deren Einhaltung dringen, wie etwa die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zeigen.
Der Mensch kann sich also seine ethischen Normen und Regeln selbst geben. Die Missbilligung von kirchlicher Seite an der angeblichen Selbstherrlichkeit des Menschen lautet, dass „eine solche Ethik sich nur noch an den tatsächlichen oder mutmaßlichen Interessen orientiere, die ein Mensch habe“. Von einem Humanisten würde das eher nicht als Kritik aufgefasst werden. Eher als Bestätigung des Grundsatzes, dass der Mensch – immer mit Blick auf die Verantwortung auch für den anderen – das Maß der Dinge sei und nicht eine in Heiligen Schriften beschriebene göttliche Wesenheit.
Der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildete Neue Humanismus versteht sich somit als eine weltliche Alternative zur Religion, als eine Weltsicht, die ohne Götter, Propheten und Priester auskommt, kein angeblich von einem Gott diktiertes heiliges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Menschen vor allem aus den Naturwissenschaften gewinnt, sich von überkommenen, metaphysischen Moralvorstellungen gelöst hat, stattdessen ethische Normen an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen orientiert.
Es ist deshalb der oft geäußerten Meinung zu widersprechen, dass der weltliche Humanismus beziehungsweise der Atheismus auch eine Form des Glaubens sei, mitunter wird sogar von einem „religiösen Atheismus“ gesprochen. Wenn zum Wesen einer Religion die Annahme einer göttlichen beziehungsweise transzendenten Macht gehört, die in irgendeiner Weise auf mein Leben Einfluss nimmt, dann ist es unsinnig und unlogisch, auch dem weltlichen Humanismus oder dem Atheismus religiöse Züge zuzusprechen oder diesen als einen „Glauben“ zu bezeichnen. Der weltliche Humanismus ist ein strikt diesseits orientiertes Lebenskonzept ohne jeden transzendenten Bezug.
Dieser Neue Humanismus besteht vereinfacht gesagt aus drei Komponenten: einem naturalistischen Weltbild, einem säkularen Wertesystem und einer strikten Diesseitsorientierung. Für mich persönlich würde ich mein humanistisches Bekenntnis wie folgt beschreiben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner humanistischen Freunde dieser Sicht anschließen können.
Erstens: Ich betrachte das, was die heutigen Naturwissenschaften als derzeit gesicherte Erkenntnis ansehen, für mich zunächst einmal als maßgebend und als Basis für alle weiteren Überlegungen. Vor allem ist es die rationale, logische und systematische Denkweise der heutigen Naturwissenschaften und ihre empirische Verankerung, die ich mir zum Vorbild genommen habe.
Ich bin höchst skeptisch allem gegenüber, was für sich Gültigkeit, ja Wahrheit beansprucht, ohne dafür wenigstens plausible Gründe angeben zu können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Wissenschaft heute noch vieles nicht erklären kann, und dass unser Wissen begrenzt und vielleicht niemals vollständig sein wird.
Zweitens: Ein säkulares Wertesystem kennt statt einer göttlich gestifteten Moral eine vernunftbasierte Ethik. Ein solches säkulares Wertesystem orientiert seine Normen und Regeln an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen. Der Mensch ist also das Maß der Dinge, nicht eine behauptete, nicht erkennbare Instanz über uns. Dieses säkulare Wertesystem drückt sich aus in humanistischen Grundsätzen und allgemein anerkannten Menschenrechten wie Selbstbestimmung, Gleichheit und Freiheit der Menschen, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit, Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen.
Der Mensch ist tatsächlich das Maß aller Dinge
Im Zentrum meines humanistischen Konzepts steht jedenfalls die Aussage, die in den Ohren vieler Menschen wie eine Provokation klingen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass der bloße Austausch von Instanzen noch keine Garantie für eine bessere Lösung darstellt. Aber nicht einzelne Menschen sollen hier über grundlegende Normen und problematische ethische Fragen entscheiden, sondern miteinander kommunizierende Menschen, die aufgrund von Sachverstand, Lebenserfahrung und Folgenabschätzung wägen und urteilen.
Insofern hätten Ethik-Kommissionen ihre Berechtigung, wenn sie denn tatsächlich ein Spiegelbild der moralisch-ethischen Auffassungen der Bürger und nicht häufig einseitig kirchlich-religiös dominiert wären.
Da Menschen naturgemäß unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, sollte das Prinzip des fairen Interessenausgleichs gelten. Unterschiedliche Interessen müssen nach dem Fairnessprinzip ausgehandelt werden. Das bedeutet, dass man sich um des gesellschaftlichen Friedens willen immer zu fragen hat: Was ist gleichermaßen gut und akzeptabel für alle beteiligten Seiten?
Man hat nur diese eine Leben
Und drittens: Meine strikte Diesseitsorientierung basiert auf der Einsicht, dass ich – höchstwahrscheinlich – nur dieses eine Leben habe. Folglich sollte ich versuchen, das Bestmögliche aus meinem Leben zu machen. Dieses Streben nach Erfüllung meines Lebens muss aber immer auch den Mitmenschen im Blick haben, der ebenso glücklich werden will. Deshalb gelingt ein erfülltes Leben am besten dadurch, dass man sich gesellschaftlich engagiert, sei es im politischen, im humanitären, vielleicht im künstlerischen Bereich.
Und schließlich: Wer sich bemüht hat und wem es gelungen ist, auf ein erfülltes, glückliches Leben zurückblicken zu können, dem wird es leichter fallen, von dieser Lebensbühne wieder abzutreten.
Aber es gibt noch einen Punkt, den man ansprechen muss. Einer naturalistischen Weltanschauung wird gern „emotionale Armut“ vorgeworfen, eine „reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung“ oder „Blindheit gegenüber den seelischen Bedürfnissen eines Menschen, der sich in existentieller Not befindet“. Diese Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt. Denn wer die Religionen ablehnt und auch die Idee eines Jenseits verwirft, meidet daher meist Gedanken zu Themen, die über uns hinausweisen, Fragen, die gewissermaßen die letzten Dinge betreffen. Denn Nichtgläubige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irrationales oder esoterisches Fahrwasser zu geraten.
Dennoch beschäftigen auch Nichtgläubige Fragen, die jenseits der rationalen Bewältigung des Alltags liegen. Auch Nichtgläubige denken über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbegreiflichkeit der Realität, und kennen Gefühle des Einsseins mit der Natur. Solche Themen sprechen eine – wie man sagen könnte – spirituelle Dimension an.
Das Thema Spiritualität wird jedenfalls von vielen Nichtgläubigen inzwischen, wenn auch mit großer Zurückhaltung, als eine das Dasein bereichernde Dimension wahrgenommen. Bei dem Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz allerdings bietet für einen Nichtgläubigen die Verheißung auf ein Weiterleben im Jenseits keinen Trost. Zu offenkundig ist für ihn dieses religiöse Versprechen Wunschdenken, eine bloße Illusion.