Atheismus heute – Was glaubt jemand der nicht glaubt

Athe­is­mus heute – Was glaubt jemand der nicht glaubt (Tages­spie­gel 14. Okto­ber 2017)
Ver­nunft als Leit­fa­den, der Mensch im Mit­tel­punkt: Wie ein Welt­bild jen­seits der Reli­gio­nen aus­se­hen kann.
Uwe Leh­nert
Eins mit dem Wald. Auch Athe­is­ten lieben die Natur. Foto: imago

Was Chris­ten oder Mus­lime glau­ben, das ist in groben Zügen so ziem­lich jedem geläu­fig. Dage­gen ist in der Öffent­lich­keit so gut wie nichts dar­über bekannt, was kon­fes­si­ons­freie Men­schen denken und für „glaub­wür­dig“ halten. Das ist eigent­lich erstaun­lich, bilden sie doch in Deutsch­land mehr als ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung, in Berlin zum Bei­spiel stel­len sie die über­große Mehr­heit dar.

Eine reprä­sen­ta­tive Befra­gung des Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tuts Emnid im Früh­jahr 2016 ergab für Berlin, dass sich 61 Pro­zent der Ber­li­ner als kon­fes­si­ons­frei, 21 Pro­zent als evan­ge­lisch und neun Pro­zent als Mit­glied der katho­li­schen Kirche bezeich­ne­ten. In den rest­li­chen neun Pro­zent sind Mus­lime, Juden und rund 50 wei­tere Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten enthalten.

Kon­fes­si­ons­freie ver­tre­ten mehr­heit­lich eine Welt­an­schau­ung, die sich bewusst von Reli­gion und einem über allem ste­hen­den Gott abgrenzt. Eine Min­der­heit unter ihnen ist zwar aus der Kirche aus­ge­tre­ten, betrach­tet sich aber oft noch in irgend­ei­ner Weise als religiös.

Zei­tun­gen, Rund­funk und Fern­se­hen halten sich vor­nehm zurück, wenn es um die Dar­stel­lung des Den­kens und Han­delns nicht­re­li­giö­ser Men­schen in Deutsch­land geht. Dabei ist in allen Staats­ver­trä­gen, die zwi­schen jedem Bun­des­land und den jewei­li­gen Rund­funk- und Fern­seh­an­stal­ten geschlos­sen wurden, aus­drück­lich fest­ge­schrie­ben, dass diese über alle rele­van­ten gesell­schaft­li­chen Grup­pie­run­gen und über alle rele­van­ten gesell­schaft­li­chen Ansich­ten und Mei­nun­gen ange­mes­sen zu berich­ten hätten. Aber ledig­lich die „staats­tra­gen­den“ Reli­gio­nen haben Ver­tre­ter in den Medienräten.

Und von denen ver­fü­gen fast nur die christ­li­chen Kir­chen über eigene Redak­tio­nen und feste Sen­de­zei­ten. Diese besit­zen somit trotz aller behaup­te­ten Tren­nung von Staat und Reli­gion ein staat­lich gewähr­tes Pri­vi­leg. Daher ist es ver­ständ­lich, dass in oben erwähn­ter Emnid-Befra­gung 54 Pro­zent der inter­view­ten Ber­li­ner sich durch die Medien und die Poli­tik nicht aus­rei­chend über die große Gruppe der Kon­fes­si­ons­freien infor­miert fühlen.

Humanist, ohne es zu wissen

Die Emnid-Studie erbrachte hin­sicht­lich der Ein­stel­lung der kirch­lich orga­ni­sier­ten Bürger höchst bemer­kens­werte Ein­sich­ten und ließ erken­nen, wie wenig lebens­be­stim­mend christ­li­che Auf­fas­sun­gen selbst bei Kir­chen­mit­glie­dern noch sind. Eine der zu beant­wor­ten­den Aus­sa­gen lau­tete: „Ich führe ein selbst­be­stimm­tes Leben, das auf ethi­schen und mora­li­schen Grund­über­zeu­gun­gen beruht und frei ist von Reli­gion und Glau­ben an einen Gott“. Über­wäl­ti­gende 74 Pro­zent der befrag­ten Ber­li­ner stimm­ten mit einer sol­chen huma­nis­ti­schen Lebens­auf­fas­sung überein.

85 Pro­zent der Kon­fes­si­ons­freien stimm­ten dieser Aus­sage zu, aber auch 57 Pro­zent der Katho­li­ken und 64 Pro­zent der Pro­tes­tan­ten äußer­ten, ein Leben „frei von Reli­gion und Glau­ben an einen Gott“ zu führen! Und sicher wird für viele gläu­bige Leser ein wei­te­res Ergeb­nis der Umfrage als irri­tie­rend emp­fun­den, dass näm­lich mit stei­gen­dem Bil­dungs­grad die Zustim­mung zu huma­nis­tisch-säku­la­ren Lebens­auf­fas­sun­gen wächst, das heißt, zu reli­giö­sen Ansich­ten abnimmt. Ein Phä­no­men, das von allen großen Städ­ten in Deutsch­land bekannt ist.

Was heu­tige Huma­nis­ten denken, von wel­chen Wert­vor­stel­lun­gen sie aus­ge­hen, ist beson­ders unter Gläu­bi­gen weit­hin unbe­kannt. Allen­falls asso­zi­iert man die Ableh­nung von Reli­gion und die Ver­nei­nung der Exis­tenz eines Gottes. Ver­bun­den sind diese Auf­fas­sun­gen oft mit der Unter­stel­lung, dass reli­gi­ons­lose, erst recht athe­is­tisch ein­ge­stellte Men­schen keine Moral kennen würden, da sie sich keiner gött­li­chen Macht gegen­über ver­pflich­tet fühlen.

Auch die Moral hat eine Evolution hinter sich

Offen­bar nimmt man an, dass mora­li­sche Prin­zi­pien, die unser Tun und Unter­las­sen regeln, nur in Gott ver­an­kert sein könn­ten. Tat­säch­lich kann die Sozio­bio­lo­gie zeigen, dass auch Moral sich evo­lu­tio­när ent­wi­ckelt hat. Denn wie anders ist es zum Bei­spiel zu erklä­ren, dass die Kern­sätze der Zehn Gebote welt­weit ver­brei­tet sind, unab­hän­gig von Reli­gion und Got­tes­vor­stel­lung. Aber auch Men­schen können Normen des Ver­hal­tens ver­ein­ba­ren und auf deren Ein­hal­tung drin­gen, wie etwa die Ame­ri­ka­ni­sche Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung oder die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte zeigen.

Der Mensch kann sich also seine ethi­schen Normen und Regeln selbst geben. Die Miss­bil­li­gung von kirch­li­cher Seite an der angeb­li­chen Selbst­herr­lich­keit des Men­schen lautet, dass „eine solche Ethik sich nur noch an den tat­säch­li­chen oder mut­maß­li­chen Inter­es­sen ori­en­tiere, die ein Mensch habe“. Von einem Huma­nis­ten würde das eher nicht als Kritik auf­ge­fasst werden. Eher als Bestä­ti­gung des Grund­sat­zes, dass der Mensch – immer mit Blick auf die Ver­ant­wor­tung auch für den ande­ren – das Maß der Dinge sei und nicht eine in Hei­li­gen Schrif­ten beschrie­bene gött­li­che Wesenheit.

Der sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten her­aus­ge­bil­dete Neue Huma­nis­mus ver­steht sich somit als eine welt­li­che Alter­na­tive zur Reli­gion, als eine Welt­sicht, die ohne Götter, Pro­phe­ten und Pries­ter aus­kommt, kein angeb­lich von einem Gott dik­tier­tes hei­li­ges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Men­schen vor allem aus den Natur­wis­sen­schaf­ten gewinnt, sich von über­kom­me­nen, meta­phy­si­schen Moral­vor­stel­lun­gen gelöst hat, statt­des­sen ethi­sche Normen an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen orientiert.

Es ist des­halb der oft geäu­ßer­ten Mei­nung zu wider­spre­chen, dass der welt­li­che Huma­nis­mus bezie­hungs­weise der Athe­is­mus auch eine Form des Glau­bens sei, mit­un­ter wird sogar von einem „reli­giö­sen Athe­is­mus“ gespro­chen. Wenn zum Wesen einer Reli­gion die Annahme einer gött­li­chen bezie­hungs­weise tran­szen­den­ten Macht gehört, die in irgend­ei­ner Weise auf mein Leben Ein­fluss nimmt, dann ist es unsin­nig und unlo­gisch, auch dem welt­li­chen Huma­nis­mus oder dem Athe­is­mus reli­giöse Züge zuzu­spre­chen oder diesen als einen „Glau­ben“ zu bezeich­nen. Der welt­li­che Huma­nis­mus ist ein strikt dies­seits ori­en­tier­tes Lebens­kon­zept ohne jeden tran­szen­den­ten Bezug.

Dieser Neue Huma­nis­mus besteht ver­ein­facht gesagt aus drei Kom­po­nen­ten: einem natu­ra­lis­ti­schen Welt­bild, einem säku­la­ren Wer­te­sys­tem und einer strik­ten Dies­seits­ori­en­tie­rung. Für mich per­sön­lich würde ich mein huma­nis­ti­sches Bekennt­nis wie folgt beschrei­ben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner huma­nis­ti­schen Freunde dieser Sicht anschlie­ßen können.

Ers­tens: Ich betrachte das, was die heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten als der­zeit gesi­cherte Erkennt­nis anse­hen, für mich zunächst einmal als maß­ge­bend und als Basis für alle wei­te­ren Über­le­gun­gen. Vor allem ist es die ratio­nale, logi­sche und sys­te­ma­ti­sche Denk­weise der heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten und ihre empi­ri­sche Ver­an­ke­rung, die ich mir zum Vor­bild genom­men habe.

Ich bin höchst skep­tisch allem gegen­über, was für sich Gül­tig­keit, ja Wahr­heit bean­sprucht, ohne dafür wenigs­tens plau­si­ble Gründe ange­ben zu können. Den­noch ist nicht zu bestrei­ten, dass Wis­sen­schaft heute noch vieles nicht erklä­ren kann, und dass unser Wissen begrenzt und viel­leicht nie­mals voll­stän­dig sein wird.

Zwei­tens: Ein säku­la­res Wer­te­sys­tem kennt statt einer gött­lich gestif­te­ten Moral eine ver­nunft­ba­sierte Ethik. Ein sol­ches säku­la­res Wer­te­sys­tem ori­en­tiert seine Normen und Regeln an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen. Der Mensch ist also das Maß der Dinge, nicht eine behaup­tete, nicht erkenn­bare Instanz über uns. Dieses säku­lare Wer­te­sys­tem drückt sich aus in huma­nis­ti­schen Grund­sät­zen und all­ge­mein aner­kann­ten Men­schen­rech­ten wie Selbst­be­stim­mung, Gleich­heit und Frei­heit der Men­schen, Soli­da­ri­tät und sozia­ler Gerech­tig­keit, Tole­ranz gegen­über ande­ren Weltanschauungen.

Der Mensch ist tatsächlich das Maß aller Dinge

Im Zen­trum meines huma­nis­ti­schen Kon­zepts steht jeden­falls die Aus­sage, die in den Ohren vieler Men­schen wie eine Pro­vo­ka­tion klin­gen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass der bloße Aus­tausch von Instan­zen noch keine Garan­tie für eine bes­sere Lösung dar­stellt. Aber nicht ein­zelne Men­schen sollen hier über grund­le­gende Normen und pro­ble­ma­ti­sche ethi­sche Fragen ent­schei­den, son­dern mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­rende Men­schen, die auf­grund von Sach­ver­stand, Lebens­er­fah­rung und Fol­gen­ab­schät­zung wägen und urteilen.

Inso­fern hätten Ethik-Kom­mis­sio­nen ihre Berech­ti­gung, wenn sie denn tat­säch­lich ein Spie­gel­bild der mora­lisch-ethi­schen Auf­fas­sun­gen der Bürger und nicht häufig ein­sei­tig kirch­lich-reli­giös domi­niert wären.

Da Men­schen natur­ge­mäß unter­schied­li­che Bedürf­nisse und Inter­es­sen haben, sollte das Prin­zip des fairen Inter­es­sen­aus­gleichs gelten. Unter­schied­li­che Inter­es­sen müssen nach dem Fair­ness­prin­zip aus­ge­han­delt werden. Das bedeu­tet, dass man sich um des gesell­schaft­li­chen Frie­dens willen immer zu fragen hat: Was ist glei­cher­ma­ßen gut und akzep­ta­bel für alle betei­lig­ten Seiten?

Man hat nur diese eine Leben

Und drit­tens: Meine strikte Dies­seits­ori­en­tie­rung basiert auf der Ein­sicht, dass ich – höchst­wahr­schein­lich – nur dieses eine Leben habe. Folg­lich sollte ich ver­su­chen, das Best­mög­li­che aus meinem Leben zu machen. Dieses Stre­ben nach Erfül­lung meines Lebens muss aber immer auch den Mit­men­schen im Blick haben, der ebenso glück­lich werden will. Des­halb gelingt ein erfüll­tes Leben am besten dadurch, dass man sich gesell­schaft­lich enga­giert, sei es im poli­ti­schen, im huma­ni­tä­ren, viel­leicht im künst­le­ri­schen Bereich.

Und schließ­lich: Wer sich bemüht hat und wem es gelun­gen ist, auf ein erfüll­tes, glück­li­ches Leben zurück­bli­cken zu können, dem wird es leich­ter fallen, von dieser Lebens­bühne wieder abzutreten.

Aber es gibt noch einen Punkt, den man anspre­chen muss. Einer natu­ra­lis­ti­schen Welt­an­schau­ung wird gern „emo­tio­nale Armut“ vor­ge­wor­fen, eine „redu­zierte Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung“ oder „Blind­heit gegen­über den see­li­schen Bedürf­nis­sen eines Men­schen, der sich in exis­ten­ti­el­ler Not befin­det“. Diese Vor­würfe sind nicht ganz unbe­rech­tigt. Denn wer die Reli­gio­nen ablehnt und auch die Idee eines Jen­seits ver­wirft, meidet daher meist Gedan­ken zu Themen, die über uns hin­aus­wei­sen, Fragen, die gewis­ser­ma­ßen die letz­ten Dinge betref­fen. Denn Nicht­gläu­bige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irra­tio­na­les oder eso­te­ri­sches Fahr­was­ser zu geraten.

Den­noch beschäf­ti­gen auch Nicht­gläu­bige Fragen, die jen­seits der ratio­na­len Bewäl­ti­gung des All­tags liegen. Auch Nicht­gläu­bige denken über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbe­greif­lich­keit der Rea­li­tät, und kennen Gefühle des Eins­seins mit der Natur. Solche Themen spre­chen eine – wie man sagen könnte – spi­ri­tu­elle Dimen­sion an.

Das Thema Spi­ri­tua­li­tät wird jeden­falls von vielen Nicht­gläu­bi­gen inzwi­schen, wenn auch mit großer Zurück­hal­tung, als eine das Dasein berei­chernde Dimen­sion wahr­ge­nom­men. Bei dem Gedan­ken an die End­lich­keit der eige­nen Exis­tenz aller­dings bietet für einen Nicht­gläu­bi­gen die Ver­hei­ßung auf ein Wei­ter­le­ben im Jen­seits keinen Trost. Zu offen­kun­dig ist für ihn dieses reli­giöse Ver­spre­chen Wunsch­den­ken, eine bloße Illusion.