Bernd Kammermeier: “Wer mehr weiß, glaubt weniger”

Auf 500 Seiten doku­men­tiert Uwe Leh­nert seinen langen Abschied vom Chris­ten­tum. Leh­nert war Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor für Bil­dungs­in­for­ma­tik und Bil­dungs­or­ga­ni­sa­tion. In seinem daraus resul­tie­ren­den wis­sen­schaft­li­chen Selbst­an­spruch und dem the­ma­ti­schen Zugang als theo­lo­gi­scher Laie liegt die Stärke seines Werkes. Es kann sich nicht an Theo­lo­gen wenden, die in ihrer eige­nen her­me­neu­ti­schen Welt leben, die kaum noch Berüh­rung zu ihrem „For­schungs­ge­gen­stand“ aufweist.

Leh­nerts Buch ist aber für Gläu­bige von Inter­esse, die sich über die Grund­la­gen ihres Glau­bens unvor­ein­ge­nom­men infor­mie­ren wollen oder bereits an deren Sinn zwei­feln. Seine Moti­va­tion beschreibt Leh­nerts so: „Dieses Buch ist her­vor­ge­gan­gen aus per­sön­li­chen Auf­zeich­nun­gen und Mate­ria­lien, die ich über viele Jahre gesam­melt habe.“ (S. 11) Auf der Titelei umreißt er dessen Funk­tion: „Ein Lese­buch für Men­schen, die sich über wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nisse, Glau­ben und Kirche infor­mie­ren und dar­über nach­den­ken möch­ten“. Diese Ein­la­dung ist auch im Wesent­li­chen die Glie­de­rung des Werkes, das mich zunächst in die Welt der Wahr­neh­mungs­mög­lich­kei­ten des Men­schen in Bezug auf seine Umwelt und sich selbst ent­führt. Diese Reise beginnt mit der Erkennt­nis­theo­rie, die uns die Beschränkt­heit unse­rer Beob­ach­tung unse­rer Rea­li­tät vor Augen führt. Die Sys­te­ma­tik, mit der dies erfolgt, ist bewun­derns­wert. Aller­dings musste ich Muse mit­brin­gen, da der Autor akri­bisch alle rele­van­ten Details zusam­men­ge­tra­gen hat. Seine Schritt-für-Schritt-Prä­sen­ta­tion erlaubte es mir jedoch seine Gedan­ken­gänge lücken­los nachzuvollziehen.

Leh­nert setzte bei mir nur gren­zen­lose Neu­gier voraus, mich auf das Aben­teuer „Begrei­fen der Welt“ ein­zu­las­sen. Der wis­sen­schaft­li­che Teil ist sehr aus­führ­lich und genau das macht „Warum ich kein Christ sein will“ zu einem Kom­pen­dium, das vor­züg­lich belegt, warum unsere Vor­fah­ren bei der Erfas­sung und Beschrei­bung unse­rer Welt schei­tern muss­ten. In „hei­li­gen“ Schrif­ten können des­halb keine Wahr­hei­ten stehen. Ihr Inhalt ent­springt dem äußerst engen Wahr­neh­mungs­be­reich, der einer vor­tech­ni­schen Zivi­li­sa­tion zur Ver­fü­gung stand. Heute eröff­net uns die Tech­nik Ein­bli­cke in Mikro- und Makro­kos­mos, die jede Got­tes­vor­stel­lung absurd erschei­nen lassen.

Dar­auf­hin beglei­tete mich Uwe Leh­nert auf das Glatt­eis der Reli­gio­nen selbst. Auch hier sind zunächst die Aus­sa­gen an der Reihe, die uns die „hei­li­gen“ Schrif­ten ver­mit­teln. Vor allem die mora­li­sche Seite der Reli­gion – ihr Aus­hän­ge­schild – nimmt er unter die empi­ri­sche Lupe. Die wich­ti­gen The­men­kom­plex „Schöp­fung“, „Schuld“ und „Sühne“ haben es ihm dabei beson­ders ange­tan. Er ana­ly­siert Bibel­texte nicht mit ver­harm­lo­sen­der Exegese, son­dern indem er sie prä­zise mit den Augen eines Nicht­kle­ri­kers liest. Er nutzt den Kon­text ein­zel­ner Bibel­verse, um zu zeigen, wie unmensch­lich sie nach heu­ti­gem Ver­ständ­nis von Gesell­schaft wirken, wenn sie ohne beschwich­ti­gende theo­lo­gi­sche Wort­akro­ba­tik gele­sen werden.

Das 5. Kapi­tel (Nach­den­ken über Gott und seine welt­li­chen Ver­tre­ter und deren Moral) wendet sich dann den Aus­wir­kun­gen der Bibel in der Kirche zu und streift auch das zen­trale Reli­gi­ons­pro­blem: die Theo­di­zee. Auch die Behaup­tung des Chris­ten­tums, die Urhe­be­rin der Moral zu sein, zer­legt Leh­nert gründ­lich, indem er auf ältere Texte ver­weist, in denen es ähn­li­che mora­li­sche Regeln gab. Auch die Zehn Gebote werden als untaug­lich für eine moderne Rechts­ord­nung entlarvt.

Den per­sön­li­chen Weg Uwe Leh­nerts aus dem Glau­ben zeich­net das 6. Kapi­tel („End­gül­ti­ger Abschied von Chris­ten­tum und Kirche“) nach. Ein letz­tes großes Kapi­tel schließt sich an („Über­le­gun­gen zu einem alter­na­ti­ven Welt- und Men­schen­bild“), in dem der Autor einen Weg in die Zukunft skiz­ziert, wie die Reise der Mensch­heit fort­ge­setzt werden könnte, wie die zen­tra­len Fragen der Reli­gion – z. B. der Sinn des Lebens – ohne Got­tes­glau­ben zufrie­den­stel­lend beant­wor­tet werden könn­ten. Wäre dies nicht ein geeig­ne­tes Geschenk für zwei­felnde Gläu­bige? Es muss nicht so sein, dass man nach der Lek­türe auto­ma­tisch kein Christ mehr sein will – aber schwer nach­voll­zieh­bar wäre ein Ver­bleib in der Kirche schon.

Rezen­sion zu dem Buch “Warum ich kein Christ sein will – Mein Weg vom christ­li­chen Glau­ben zu einer natu­ra­lis­tisch-huma­nis­ti­schen Welt­an­schau­ung”.