Auf 500 Seiten dokumentiert Uwe Lehnert seinen langen Abschied vom Christentum. Lehnert war Universitätsprofessor für Bildungsinformatik und Bildungsorganisation. In seinem daraus resultierenden wissenschaftlichen Selbstanspruch und dem thematischen Zugang als theologischer Laie liegt die Stärke seines Werkes. Es kann sich nicht an Theologen wenden, die in ihrer eigenen hermeneutischen Welt leben, die kaum noch Berührung zu ihrem „Forschungsgegenstand“ aufweist.
Lehnerts Buch ist aber für Gläubige von Interesse, die sich über die Grundlagen ihres Glaubens unvoreingenommen informieren wollen oder bereits an deren Sinn zweifeln. Seine Motivation beschreibt Lehnerts so: „Dieses Buch ist hervorgegangen aus persönlichen Aufzeichnungen und Materialien, die ich über viele Jahre gesammelt habe.“ (S. 11) Auf der Titelei umreißt er dessen Funktion: „Ein Lesebuch für Menschen, die sich über wissenschaftliche Erkenntnisse, Glauben und Kirche informieren und darüber nachdenken möchten“. Diese Einladung ist auch im Wesentlichen die Gliederung des Werkes, das mich zunächst in die Welt der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen in Bezug auf seine Umwelt und sich selbst entführt. Diese Reise beginnt mit der Erkenntnistheorie, die uns die Beschränktheit unserer Beobachtung unserer Realität vor Augen führt. Die Systematik, mit der dies erfolgt, ist bewundernswert. Allerdings musste ich Muse mitbringen, da der Autor akribisch alle relevanten Details zusammengetragen hat. Seine Schritt-für-Schritt-Präsentation erlaubte es mir jedoch seine Gedankengänge lückenlos nachzuvollziehen.
Lehnert setzte bei mir nur grenzenlose Neugier voraus, mich auf das Abenteuer „Begreifen der Welt“ einzulassen. Der wissenschaftliche Teil ist sehr ausführlich und genau das macht „Warum ich kein Christ sein will“ zu einem Kompendium, das vorzüglich belegt, warum unsere Vorfahren bei der Erfassung und Beschreibung unserer Welt scheitern mussten. In „heiligen“ Schriften können deshalb keine Wahrheiten stehen. Ihr Inhalt entspringt dem äußerst engen Wahrnehmungsbereich, der einer vortechnischen Zivilisation zur Verfügung stand. Heute eröffnet uns die Technik Einblicke in Mikro- und Makrokosmos, die jede Gottesvorstellung absurd erscheinen lassen.
Daraufhin begleitete mich Uwe Lehnert auf das Glatteis der Religionen selbst. Auch hier sind zunächst die Aussagen an der Reihe, die uns die „heiligen“ Schriften vermitteln. Vor allem die moralische Seite der Religion – ihr Aushängeschild – nimmt er unter die empirische Lupe. Die wichtigen Themenkomplex „Schöpfung“, „Schuld“ und „Sühne“ haben es ihm dabei besonders angetan. Er analysiert Bibeltexte nicht mit verharmlosender Exegese, sondern indem er sie präzise mit den Augen eines Nichtklerikers liest. Er nutzt den Kontext einzelner Bibelverse, um zu zeigen, wie unmenschlich sie nach heutigem Verständnis von Gesellschaft wirken, wenn sie ohne beschwichtigende theologische Wortakrobatik gelesen werden.
Das 5. Kapitel (Nachdenken über Gott und seine weltlichen Vertreter und deren Moral) wendet sich dann den Auswirkungen der Bibel in der Kirche zu und streift auch das zentrale Religionsproblem: die Theodizee. Auch die Behauptung des Christentums, die Urheberin der Moral zu sein, zerlegt Lehnert gründlich, indem er auf ältere Texte verweist, in denen es ähnliche moralische Regeln gab. Auch die Zehn Gebote werden als untauglich für eine moderne Rechtsordnung entlarvt.
Den persönlichen Weg Uwe Lehnerts aus dem Glauben zeichnet das 6. Kapitel („Endgültiger Abschied von Christentum und Kirche“) nach. Ein letztes großes Kapitel schließt sich an („Überlegungen zu einem alternativen Welt- und Menschenbild“), in dem der Autor einen Weg in die Zukunft skizziert, wie die Reise der Menschheit fortgesetzt werden könnte, wie die zentralen Fragen der Religion – z. B. der Sinn des Lebens – ohne Gottesglauben zufriedenstellend beantwortet werden könnten. Wäre dies nicht ein geeignetes Geschenk für zweifelnde Gläubige? Es muss nicht so sein, dass man nach der Lektüre automatisch kein Christ mehr sein will – aber schwer nachvollziehbar wäre ein Verbleib in der Kirche schon.
Rezension zu dem Buch “Warum ich kein Christ sein will – Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung”.