Christliche Werte – Sind sie »christlich« und was sind sie »wert«?

Christ­li­che Werte – Sind sie »christ­lich« und was sind sie »wert«? (PDF)

Uwe Leh­nert

Wann immer sich die Gele­gen­heit zeigt, for­dern Poli­ti­ker, vor­nehm­lich jene aus den beiden großen Volks­par­teien, sich auf die sog. christ­li­chen Grund­werte zu besin­nen. Mit dem Ver­weis auf den angeb­li­chen oder tat­säch­li­chen »Ver­fall der Werte« wird die sog. »christ­li­che Wer­te­ge­mein­schaft« beschwo­ren. Das Chris­ten­tum sei – so heißt es dann – die Grund­lage allen ethi­schen Han­delns. Moral ohne Bezug auf Gott führe über die Belie­big­keit schließ­lich zur Unmo­ral. Ein Volk ohne eine in Gott ver­an­kerte Moral habe keine Zukunft, und was derlei mehr im Brust­ton der Über­zeu­gung, aber in der Regel ohne tie­fere Kennt­nis der Bibel vor­ge­brachte Bekun­dun­gen sein mögen. Und die gren­zen­lose Amoral, die sich in der Geschichte des Chris­ten­tums wider­spie­gelt, wird sowieso sou­ve­rän ignoriert.

Der deut­sche Bun­des­tags­prä­si­dent Nor­bert Lam­mert sprach jüngst von der »über­ra­gen­den Akzep­tanz der christ­li­chen Werte«. »Dies­seits und jen­seits von Europa haben wir inzwi­schen viele Bei­spiele dafür, dass eine Absage an die Reli­gion eine Gesell­schaft weder moder­ner noch huma­ner macht«, meinte er. Die Frage sei erlaubt: Sind etwa die vielen durch den Islam gepräg­ten Länder durch ihre Reli­gion moder­ner und huma­ner gewor­den, etwa im Sinne von mehr Demo­kra­tie und der Beach­tung der Menschenrechte?

Nun möchte ich nicht bestrei­ten, dass einige der sog. christ­li­chen Werte durch­aus auch von mir als Ele­mente einer Moral ange­se­hen werden können. Aller­dings sind diese das Ergeb­nis einer sozio­kul­tu­rel­len Ent­wick­lung und nicht Bibel und christ­li­cher Lehre zu ver­dan­ken. Schon im meso­po­ta­mi­schen Codex Ham­mu­rabi und im Ägyp­ti­schen Toten­buch finden sich Ele­mente der Zehn Gebote. Und per­si­sche, grie­chi­sche und römi­sche Denker haben schon Men­schen­rechte dis­ku­tiert, die sich in der Bibel so nicht finden. 539 v.u.Z. ver­kün­dete der per­si­sche Reichs­grün­der Kyros II. die Frei­heit der Reli­gi­ons­aus­übung, die Abschaf­fung der Skla­ve­rei und die Ras­sen­gleich­heit. Die athe­ni­schen Sophis­ten Anti­phon und Alki­da­mas the­ma­ti­sier­ten schon drei und vier Jahr­hun­derte v.u.Z. die Gleich­heit und Frei­heit aller Men­schen. Und Marcus Tul­lius Cicero, römi­scher Poli­ti­ker, Schrift­stel­ler und Phi­lo­soph, der von 106–43 v.u.Z. lebte, sprach allen Men­schen von Natur aus eigene Erha­ben­heit und Würde zu. (1) Auch wenn diese hehren Worte mehr Absich­ten bekun­de­ten und allen­falls eine punk­tu­elle Rea­li­sie­rung erfuh­ren, machen sie doch deut­lich, dass schon vor dem Auf­kom­men des Chris­ten­tums gedank­li­che Ansätze exis­tier­ten, allen Men­schen unver­äu­ßer­li­che Rechte zuzusprechen.

Wenn heute kir­chen­nahe Poli­ti­ker die »christ­li­chen Werte« beschwö­ren, die unser gesam­tes poli­ti­sches Han­deln maß­geb­lich zu bestim­men hätten, ja, dass ohne sie die Amoral regierte, dann sind diese Werte heute nach den Inten­tio­nen der Auf­klä­rung und im Lichte einer auf­ge­klär­ten, das heißt reli­giös-eman­zi­pier­ten Ver­nunft zu beur­tei­len. Und da zeigt sich, dass sie einer kri­ti­schen Bewer­tung nicht stand­hal­ten oder ohne­hin welt­weit aner­kannte Normen dar­stel­len, denen eine spe­zi­fisch christ­li­che Grund­le­gung nicht zuer­kannt werden kann. Fragen wir uns zunächst, was unter den »christ­li­chen Werten« ver­stan­den wird?

Es sind die Aner­ken­nung Gottes als Schöp­fer der Welt und des Men­schen und zugleich als oberste Moral­in­stanz, ferner die Zehn Gebote und die wesent­li­chen Aus­sa­gen der Berg­pre­digt wie Gewalt­lo­sig­keit, Gerech­tig­keit, Nächs­ten­liebe, Barm­her­zig­keit. Alle diese norm­stif­ten­den Prin­zi­pien so heißt es – würden aus der Bibel folgen, des­halb habe dieses Buch als gene­relle Ori­en­tie­rung allen täg­li­chen, vor allem mora­li­schen Han­delns zu gelten.

Ich frage mich: Ver­kör­pern die Zehn Gebote und die Berg­pre­digt, die so gern voller Stolz und Selbst­be­wusst­sein als angeb­lich Gottes Wort und Kern christ­li­cher Moral hoch­ge­lobt werden, wirk­lich eine Moral, die so unbe­se­hen des Befol­gens würdig sind? Unter­zie­hen wir diese sog. christ­li­chen Werte einer kri­ti­schen Betrachtung.

Der Got­tes­glaube darf nicht für alle Men­schen ver­bind­lich sein

Den christ­li­chen Got­tes­glau­ben für alle Bürger ver­bind­lich zu machen, ist in einer mul­ti­welt­an­schau­li­chen Gesell­schaft anma­ßend und unde­mo­kra­tisch. Dies ist kon­kret der Fall, wenn gesetz­li­che Ver­bote, wie z. B. zur Embryo­nen- und Stamm­zell­for­schung, zur Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik, zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch oder zur akti­ven Ster­be­hilfe, mit dem christ­li­chen Men­schen­bild begrün­det, aber als Gesetze all­ge­mein ver­bind­lich gemacht werden, also auch für Anders- und Nicht­gläu­bige gelten sollen.

Für einen wahren und über­zeug­ten Chris­ten müsste das gesetz­li­che Verbot der oben genann­ten Hand­lun­gen über­flüs­sig sein, denn es müsste ihm ja ein gern erfüll­tes Anlie­gen sein, Gottes Gebote, wie sie die Kirche für ihn fest­legt, zu befol­gen. Dass es dafür staat­li­che Gesetze gibt, die auch für den Nicht­chris­ten gelten, der in diesen, wesent­lich vom Glau­ben gepräg­ten Fragen even­tu­ell eine ganz andere, ebenso zu ach­tende Auf­fas­sung hat, ist dem immer noch wir­ken­den kirch­li­chen Ein­fluss geschul­det. Dieser Ein­fluss mani­fes­tiert sich in gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren (z.B. im Rechts- und Erzie­hungs­we­sen), wirkt unbe­wusst als tra­dier­tes Wer­te­sys­tem noch in den Köpfen selbst Glau­bens­fer­ner und zeigt sich zum Bei­spiel in einem kirch­lich-staat­li­chen Macht­den­ken, das stets mehr durch Ver­bie­ten als durch Vor­le­ben und Über­zeu­gen gekenn­zeich­net war. Diese aus dem Glau­ben fol­gen­den straf­be­wehr­ten Ver­bote lassen einer­seits erken­nen, dass die Kirche, ein­schließ­lich der ihr will­fäh­rig erge­be­nen Poli­ti­ker, ihrer eige­nen Kli­en­tel nicht traut, ande­rer­seits sich anmaßt, auch allen Nicht­gläu­bi­gen auf dem Umweg über staat­li­che Gesetze ihre Glau­bens­auf­fas­sung auf­zu­zwin­gen. Die Lösung im Sinne des gesell­schaft­li­chen Frie­dens kann hier nur lauten, dass Ver­hal­tens­wei­sen, die eine wesent­lich reli­giöse Begrün­dung haben, dem ein­zel­nen Gläu­bi­gen zu über­las­sen sind.

Die Zehn Gebote sind keine Erfin­dung des Christentums

Die Zehn Gebote, essen­ti­el­ler Bestand­teil biblisch fun­dier­ter Moral, möchte ich als nächs­tes betrach­ten. Aller­dings nicht in der knap­pen Form, wie sie viele von uns im Reli­gi­ons- oder Kon­fir­man­den- bzw. Kom­mu­ni­onun­ter­richt ken­nen­ge­lernt haben, son­dern wie sie ursprüng­lich im Alten Tes­ta­ment for­mu­liert wurden. Martin Luther zum Bei­spiel hatte sich die Frei­heit genom­men, den Text zu ver­än­dern und – wie ich meine – schön­fär­be­risch zu inter­pre­tie­ren. In der heute ver­brei­te­ten und zu ler­nen­den Form sind inter­es­san­ter­weise höchst frag­wür­dige Text­ele­mente, die in der Bibel stehen, weg­ge­las­sen worden.

Dort im 2. Buch Mose heißt es in Kap. 20, Vers 1–21 zum 1. Gebot: »Du sollst neben mir keine ande­ren Götter haben. … Du sollst dich nicht vor ande­ren Göt­tern nie­der­wer­fen und dich nicht ver­pflich­ten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifer­süch­ti­ger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, ver­folge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der drit­ten und vier­ten Gene­ra­tion; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tau­sen­den meine Huld.« Und das 10. Gebot bei­spiels­weise lautet: »Du sollst nicht nach der Frau deines Nächs­ten ver­lan­gen, nach seinem Skla­ven oder seiner Skla­vin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend­et­was, was deinem Nächs­ten gehört.« (2)

Das erste Gebot kennt also keine Reli­gi­ons­frei­heit und droht mit dem, was wir heute Sip­pen­haf­tung nennen würden und zurecht als amo­ra­lisch kenn­zeich­nen. Die Sünden der Väter werden bis in die vierte Gene­ra­tion ver­folgt, so unbe­tei­ligt und unschul­dig die betrof­fe­nen Kinder und Kin­des­kin­der auch sein mögen. Es ist übri­gens von Söhnen die Rede, nicht von Töch­tern, die von min­de­rem Rang waren. Folgte man der Bibel, würde sich an der Gering­schät­zung der Frau bis heute nichts geän­dert haben.

Das 10. Gebot ist inso­fern bemer­kens­wert, als es die Skla­ve­rei als eine selbst­ver­ständ­li­che, offen­bar auch von Gott nicht in Frage gestellte Aus­beu­tung von Men­schen durch Men­schen hin­nimmt. Das Skla­ven­tum hatte seinen festen Platz im dama­li­gen Welt­bild und wird offen­sicht­lich von Gott gebil­ligt. Dass dies keine will­kür­lich vor­ge­nom­mene Deu­tung dar­stellt, geht zum Bei­spiel aus dem 2. Buch Mose, Kap. 21, Vers 2–11 hervor. Auch dort wird aus­führ­lich die offen­bar gott­ge­wollte Rolle des Skla­ven als pri­va­tes Eigen­tum des jewei­li­gen Herrn fest­ge­legt. Apos­tel Paulus argu­men­tiert eben­falls in diesem Sinne. Im 1. Korin­ther, Kap. 7, Vers 21f drückt er sich sehr ein­deu­tig und gera­dezu ermun­ternd für das gedul­dige Ertra­gen des Skla­ven­da­seins aus.

Des­wei­te­ren wird in diesem 10. Gebot die Ehe­frau den Skla­ven, Haus­tie­ren und Sachen gleich­ran­gig zuge­ord­net und wie selbst­ver­ständ­lich als natür­li­cher Besitz des Mannes bezeich­net. Von Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter ist keine Rede. Die übri­gen Gebote, vor allem die Gebote 4 bis 9 sind grund­le­gende Ver­hal­tens­nor­men, die welt­weit in jeder Gesell­schaft Gül­tig­keit haben, also nicht als typisch christ­lich gelten können. Sie finden sich im Grund­satz schon im Ägyp­ti­schen Toten­buch und im Codex Ham­mu­rabi des anti­ken Mesopotamien.

Die Berg­pre­digt ist kein Vor­bild für ein moder­nes Ethikkonzept

Poli­ti­ker beru­fen sich in ihrer Tätig­keit gern auf die Berg­pre­digt, die sie angeb­lich als Leit­li­nie betrach­ten und der sie Anlei­tun­gen für ihre prak­ti­sche Arbeit ent­neh­men würden. Dabei ist darauf zu ver­wei­sen, dass Jesus bei seiner Berg­pre­digt das nahe Ende der Welt und damit das Jen­seits vor Augen hatte. Die dies­sei­tige Welt war ihm längst gleich­gül­tig gewor­den. Ich zitiere einige oft genannte Pas­sa­gen der Bergpredigt:

»Selig, die keine Gewalt anwen­den; denn sie werden das Land erben – Selig, die hun­gern und dürs­ten nach der Gerech­tig­keit, denn sie werden satt werden – Selig die Barm­her­zi­gen, denn sie werden Erbar­men finden – Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen – Selig, die Frie­den stif­ten, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden – Selig, die um der Gerech­tig­keit willen ver­folgt werden, denn ihnen gehört das Him­mel­reich« (3)

Gewalt­lo­sig­keit, Gerech­tig­keits­liebe, Barm­her­zig­keit, Rein­heit des Her­zens – im Sinne von Auf­rich­tig­keit, Ehr­lich­keit und Frie­dens­liebe – sowie – modern gespro­chen – zivil­cou­ra­gier­ter Ein­satz für Ver­folgte und Benach­tei­ligte sind in der Tat Tugen­den, die dem gedeih­li­chen Zusam­men­le­ben der Men­schen dienen. Zu Recht wohl gelten diese Pas­sa­gen des Neuen Tes­ta­ments, so unmo­dern sie in unse­ren Ohren heute klin­gen mögen, als eine zen­trale, von jedem Men­schen guten Wil­lens zu beher­zi­gende Bot­schaft. Ich erkenne an, dass an dieser Stelle die Bibel einen Anker­punkt mora­li­schen Den­kens und Han­delns dar­stel­len könnte. Auch die von Jesus immer wieder ange­mahnte Nächs­ten­liebe gehört hierzu. Sie wird bereits im Alten Tes­ta­ment (3. Mose, Kap. 19, Vers 18) gefor­dert, dort aller­dings nur für die Ange­hö­ri­gen des eige­nen Stam­mes. Jesus wei­tete die Nächs­ten­liebe aus auf alle Men­schen, unab­hän­gig von Stamm und Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit; zumin­dest lässt das Gleich­nis vom barm­her­zi­gen Sama­ri­ter diese Deu­tung zu. Aber gerade die Nächs­ten­liebe und noch mehr die von Jesus gefor­derte Fein­des­liebe sind jene Tugen­den, die in der Geschichte des Chris­ten­tums von deren Reprä­sen­tan­ten am wenigs­ten geübt und hoch­ge­hal­ten wurden. Ja, selbst Jesus wünscht jenen immer wieder die höchste denk­bare Strafe, die Hölle, die seiner Glau­bens­bot­schaft ableh­nend gegenüberstehen.

Auch andere Gesell­schaf­ten haben solche mora­li­schen Gebote ent­wi­ckelt, auch ohne Bezug auf den christ­li­chen Gott und seinen – behaup­te­ten – Sohn Jesus. Offen­bar liegt diesen Gebo­ten ein allen Men­schen gemein­sa­mes Bedürf­nis nach einem har­mo­ni­schen, Leid ver­hin­dern­den Mit­ein­an­der zu Grunde, und zwar welt­weit. Eine Fest­stel­lung, die auf den evo­lu­tio­nä­ren Ursprung von Moral ver­weist. Das heißt, den Grund­aus­sa­gen der Berg­pre­digt liegt in großen Teilen ein welt­weit gül­ti­ges Ethos zu Grunde. Die gern als spe­zi­fisch christ­lich bezeich­nete Barm­her­zig­keit und Nächs­ten­liebe findet sich durch­aus auch in ande­ren Lehren und Reli­gio­nen und ent­spricht im Übri­gen dem, was heute mit Soli­da­ri­tät bezeich­net wird, ein Prin­zip gegen­sei­tig prak­ti­zier­ter, eben evo­lu­tio­när ent­wi­ckel­ter Mit-Menschlichkeit.

Bemer­kens­wert an den sog. Selig­prei­sun­gen ist, dass jeder Befol­gung bzw. Nicht­be­fol­gung eines Gebots eine Beloh­nung bzw. Bestra­fung in Aus­sicht gestellt wird. Gutes tun um des Guten willen, das wäre doch wahr­haft von ethi­scher Gesin­nung. An ande­rer Stelle der Berg­pre­digt heißt es: Wer seinem Bruder zürnt, ver­dient die Hölle, wer eine Frau lüs­tern ansieht, begeht schon gedank­lich Ehe­bruch, ein ebenso todes­wür­di­ges Ver­bre­chen. Die Berg­pre­digt ver­kün­det somit eine Ethik der Beloh­nung und des Angst­ma­chens. Vor­bild für ein moder­nes Ethik-Kon­zept ist sie damit gewiss nicht.

Die Bibel spie­gelt Denken und Ver­hal­ten der Bron­ze­zeit wider

In vielen Teilen der Bibel werden Gewalt (z.B. krie­ge­ri­scher Land­raub), Men­schen­rechts­ver­let­zung (z.B. Skla­ve­rei) oder die Äch­tung von Homo­se­xua­li­tät (bei Strafe des Todes!) gerecht­fer­tigt sowie heu­tige gesell­schaft­li­che Normen wie zum Bei­spiel Gleich­be­rech­ti­gung von Mann und Frau oder etwa Reli­gi­ons­frei­heit negiert. Die Bibel als Basis gesell­schaft­lich erwünsch­ten Ver­hal­tens zu bezeich­nen, ist daher schlicht indis­ku­ta­bel, zeugt bes­ten­falls von sträf­li­cher Unkennt­nis dieses Buches. Und eine Tugend wie die Tole­ranz, die wir heute als unbe­dingte Vor­aus­set­zung für ein fried­li­ches Neben­ein­an­der der Welt­an­schau­un­gen und Kul­tu­ren anse­hen, wird im Neuen Tes­ta­ment regel­recht ver­wor­fen. Pro­gram­ma­ti­sche Bibel­stel­len wie »Nie­mand kommt zum Vater außer durch mich« (Johan­nes, Kap. 14, Vers 6) oder »Wer glaubt und sich taufen lässt, wird geret­tet; wer aber nicht glaubt, wird ver­dammt werden« (Markus, Kap. 16, Vers 16) ver­ur­tei­len und gren­zen in ihrer Aus­sage Men­schen mit ande­ren Auf­fas­sun­gen aus. Auch des­we­gen dürfte den »christ­li­chen Werten« kei­nes­falls All­ge­mein­gül­tig­keit zuge­spro­chen werden. Die heute von den Kir­chen geübte Duld­sam­keit gegen­über ande­ren Glau­bens­vor­stel­lun­gen folgt nicht aus bibli­scher Erleuch­tung son­dern erzwun­ge­ner Ein­sicht in die poli­ti­sche Notwendigkeit.

Die ver­zwei­fel­ten Ver­su­che von Theo­lo­gen, die alter­tüm­li­chen Texte der Bibel durch gera­dezu will­kür­li­che Aus­le­gun­gen für den heu­ti­gen Men­schen akzep­ta­bel zu machen, offen­ba­ren das ganze Dilemma. Diese Inter­pre­ta­ti­ons­will­kür mit viel­fach sich wider­spre­chen­den Aus­le­gun­gen zeigt, wie bron­ze­zeit­lich und damit außer­halb unse­rer Zeit die aller­meis­ten Texte dieser sog. Hei­li­gen Schrif­ten sind. Nur durch sehr groß­zü­gige Deu­tung und zusätz­lich (!) still­schwei­gen­der Berück­sich­ti­gung heute all­ge­mein akzep­tier­ter mora­li­scher Prin­zi­pien lassen sich – aus­ge­wählte! – Bibel­texte noch als norm­ge­bend und moral­stif­tend »retten«.

Die »christ­li­chen Werte« igno­rie­ren die Werte der Aufklärung

Die ent­schei­den­den Prin­zi­pien bzw. Kri­te­rien, nach denen selbst bibel­treue Chris­ten die Stei­ni­gung von Ehe­bre­che­rin­nen, das Töten von Homo­se­xu­el­len oder etwa das Kaufen und Halten von Skla­ven ableh­nen, obwohl diese Gebote bzw. Auf­for­de­run­gen biblisch legi­ti­miert sind, stam­men gerade nicht aus der Bibel, sie sind ein Ergeb­nis der auf Ver­nunft grün­den­den Auf­klä­rung. Es ist noch nicht lange her, da wurden die Bibel und ihre Bot­schaft ganz gegen­tei­lig gedeutet.

Es gilt viel­mehr fest­zu­stel­len: Nur der »harte Kern« der Zehn Gebote hat Bestand, weil er das Ergeb­nis evo­lu­tio­nä­rer Ent­wick­lung ist, er hatte daher schon immer welt­weite Gül­tig­keit. Die dar­über hinaus uns heute wich­ti­gen Werte und Normen stam­men nicht aus der Bibel, sie sind Ergeb­nis mora­lisch-ethi­scher Wei­ter­ent­wick­lung. Es sind dies die Men­schen­rechte wie die Mei­nungs­frei­heit als gera­dezu grund­le­gen­des Recht, das Recht auf Selbst­be­stim­mung, Gleich­heit und Gleich­be­rech­ti­gung, Reli­gi­ons- und Wis­sen­schafts­frei­heit, Rechts­staat­lich­keit und vieles andere mehr. Nichts davon steht in der Bibel, sie steht einem demo­kra­ti­schen, die Men­schen­rechte ver­bür­gen­den Staat gera­dezu ent­ge­gen. Alle diese Rechte muss­ten dem Chris­ten­tum bzw. einer poli­tisch agie­ren­den Kirche in ver­lust­rei­chen Kämp­fen abge­trotzt werden. (4)

Erin­nert sei an die Worte des evan­ge­li­schen Theo­lo­gen F. W. Graf, Mün­chen, wonach noch in den 1950er Jahren in beiden großen Kir­chen der Begriff der Men­schen­rechte kri­tisch als »libe­ra­lis­ti­sche Ver­ir­rung« auf­ge­fasst wurde (5). Dass unsere heu­tige poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Kultur auf christ­li­chen Werten beruhe, ist also höf­lich aus­ge­drückt: eine Legende, deut­li­cher for­mu­liert: eine bewusste Irre­füh­rung. Gera­dezu skru­pel­los ist es, wenn sich die Kir­chen – wie oft in Dis­kus­sio­nen zu hören – als Quelle der Men­schen­rechte und Mit­ge­stal­ter der Auf­klä­rung aufspielen.

Wir können somit fest­hal­ten: Es ist nach­weis­lich falsch, dass eine nach-christ­li­che bzw. nicht-christ­li­che Gesell­schaft ohne ver­bind­li­che Werte dastünde. Unsere heu­ti­gen grund­le­gen­den und maß­geb­li­chen Werte sind immer noch die, die in der Auf­klä­rung wur­zeln. Die Kirche und die ihr gläu­big fol­gen­den Poli­ti­ker ver­su­chen, das »Rad der mora­li­schen Geschichte« zurück­zu­dre­hen, wenn sie Bibel und christ­li­che Lehre wieder zum allei­ni­gen Maß­stab machen wollen. Mit diesem Werte- und Nor­men­ka­non lassen sich heu­tige ethi­sche Fragen – aus­ge­löst vor allem durch medi­zin- und gen­tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen, aber auch durch Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie und Glo­ba­li­sie­rung – schon längst nicht mehr pro­ble­man­ge­mes­sen beant­wor­ten. Die sog. christ­li­chen Werte bilden allen­falls noch eine his­to­ri­sche Remi­nis­zenz, sie sind längst über­formt und erwei­tert worden durch die mühsam und ver­lust­reich errun­ge­nen Früchte der Aufklärung.Anmerkungen:

(1) Einen Über­blick gibt Sikan­dar Sid­di­qui: Brau­chen Werte Gott? Ver­füg­bar über: www.fowid.de à Text­ar­chiv, Erwei­terte Suche. Man google zunächst unter den Schlag­wör­tern »Kyros Skla­ven Reli­gion«, hier die Seiten von »human-rights« – »Sophis­ten Anti­phon Alki­da­mas« – »Cicero Erha­ben­heit Würde«. Dort wei­tere Literaturhinweise.

(2) 2. Buch Mose, Exodus, Kap. 20, Vers 1–21. Ein­heits­über­set­zung – Bibel­text, hrsg. von den kathol. und evan­gel. Kir­chen Deutsch­lands, Öster­reichs und der Schweiz, Herder Verlag 1980.

(3) Mat­thäus, Kap. 5, Vers 5–10. Ein­heits­über­set­zung. Siehe Anm. (2)

(4) Wie aus­ge­prägt die Ableh­nung der Kirche gegen das neu­zeit­li­che Denken war, zeigt der berühmt-berüch­tigte Syl­labus (Ver­zeich­nis) von Papst Pius IX. aus dem Jahr 1864. Darin werden die Errun­gen­schaf­ten auf­ge­klär­ten Den­kens ver­dammt: Ratio­na­lis­mus, Natu­ra­lis­mus, Libe­ra­lis­mus, Demo­kra­tie, Tren­nung von Staat und Kirche u.v.a.m. Der sog. Anti­mo­der­nis­ten­eid wurde von Papst Pius X. 1910 ein­ge­führt. Ihn muss­ten alle Geist­li­chen auf allen Ebenen able­gen. Er wandte sich eben­falls gegen die »unse­li­gen Irr­tü­mer der Moderne«, wie sie in dem oben erwähn­ten Syl­labus bereits ver­ur­teilt wurden. Erst 1967 schaffte ihn Papst Paul VI. ab.
(5) Der Theo­loge Fried­rich Wil­helm Graf in der Süd­deut­schen Zei­tung am 12.10.2010.Der Auf­satz erschien im Frei­den­ker – Zeit­schrift für Frei­den­ke­rIn­nen, Huma­nis­tIn­nen und Athe­is­tIn­nen, Heft 1, 2014.