»Gott hat einen Anspruch auf mich«

von Uwe Lehnert

Manch­mal begeg­nen mir Bibel- und kirch­li­che Losun­gen, die ich nicht wider­spruchs­los hin­neh­men mag. So ein Spruch war kürz­lich folgender:

               »Gott hat einen Anspruch auf mich«

Diese Losung stand in einem Schau­kas­ten der Selbst­stän­di­gen Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kirche, Annen­straße, in Berlin-Mitte. Es reizte mich, ihn zu kommentieren:

Gott hat einen Anspruch auf mich?

Wer einen Anspruch auf mich hat, dem bedeute ich etwas. Aber wer ist es, dem ich angeb­lich etwas bedeute? Wer ist Gott? Keiner hat ihn bisher gese­hen. Vor­ge­stellt haben sich ihn schon unzäh­lig viele Men­schen als ein Gegen­über, mit dem man ver­trau­lich in Kon­takt treten kann.

Ver­mut­lich ver­langt die soziale Natur des Men­schen ein­fach so stark nach einem Part­ner, dass man ihn sich ein­fach nur inten­siv genug vor­stel­len muss, um das Bedürf­nis nach Nähe und Kom­mu­ni­ka­tion und Wert­schät­zung zu befrie­di­gen. Offen­sicht­lich lebt so manch Bedräng­ter in einer – wenn auch nur gedank­li­chen – Gemein­schaft unbe­schwer­ter, hoff­nungs­vol­ler und erfüll­ter. Viele Men­schen brau­chen offen­bar ein all­mäch­ti­ges »Du«, dem sie ihre Wün­sche, Hoff­nun­gen, Ver­zweif­lung oder emp­fun­dene Bedeu­tungs­lo­sig­keit anver­trauen können.

Der Got­tes­glaube also eine Folge der sozia­len Natur des Men­schen und damit ein Ergeb­nis der Evolution?

Gera­dezu ent­hül­lend ist, was pas­send dazu Wiki­pe­dia zum Stich­wort »Auto­sug­ges­tion« schreibt:

»Auto­sug­ges­tion ist der Pro­zess, durch den eine Person ihr Unbe­wuss­tes trai­niert, an etwas zu glau­ben. Dies wird erreicht durch Selbst­hyp­nose oder wie­der­holte Selbst-Affir­ma­tio­nen, und kann als eine selbst­in­du­zierte Beein­flus­sung der Psyche an-gese­hen werden. Die Wirk­sam­keit der auto­sug­ges­ti­ven Gedan­ken­for­meln kann durch men­tale Visua­li­sie­run­gen des ange­streb­ten Ziels erhöht werden. Der Erfolg der Auto­sug­ges­tion wird umso wahr­schein­li­cher, je kon­sis­ten­ter und länger (bzw. öfter) sie ange­wen­det wird.« Und weiter heißt es:

»Bei der Auto­sug­ges­tion wird der­selbe for­mel­haft umris­sene Gedanke über län­gere Zeit in Form men­ta­ler Übun­gen wie­der­holt, bis er zum festen Bestand­teil des unbe­wuss­ten Denk­pro­zes­ses gewor­den ist. Je nach welt­an­schau­li­chem Hin­ter­grund wird erwar­tet, dass sich dieser Gedanke in Über­zeu­gun­gen oder Tat­sa­chen ver­wan­delt. Typi­sche Wege, den eige­nen Geist durch Auto­sug­ges­tion zu beein­flus­sen, sind:

Sich die Aus­wir­kun­gen einer Über­zeu­gung bild­lich vorzustellen,sie verbal zu bekräf­ti­gen oder sie mental durch per­ma­nente Wie­der­ho­lung zu ver­ge­gen­wär­ti­gen (inne­rer Sprechgesang).«

Und schließ­lich:

»Auto­sug­ges­tio­nen sind auch Bestand­teil eso­te­ri­scher und okkul­ter Ver­fah­ren.« Ich ergänze: über­haupt ganz all­ge­mein reli­giö­ser Systeme.

Wer kann sich der sug­ges­ti­ven Wir­kung der immer glei­chen Gebete, der ver­trau­ten Lieder, der ritua­li­sier­ten Abläufe der sonn­täg­li­chen Andach­ten, der Anru­fungs- und Beschwö­rungs­for­meln eines Got­tes­diens­tes auf Dauer ent­zie­hen, wenn sie von Kind­heit an und über Jahre erfolgte?

Der Glaube ein sich selbst recht­fer­ti­gen­des Lebenskonzept

Ich behaupte dar­über hinaus, dass viele Chris­ten den ihnen einst aner­zo­ge­nen oder durch Auto­sug­ges­tion erwor­be­nen Glau­ben so unre­flek­tiert ver­in­ner­licht haben, dass ihnen die Frage über­haupt nicht mehr in den Sinn kommt, ob den Kern­aus­sa­gen ihres Glau­bens ein plau­si­bles Kon­zept oder ein nach­weis­lich his­to­ri­sches Gesche­hen zu Grunde liegt.

Dieses Glau­bens­sys­tem mit seinen den Alltag struk­tu­rie­ren­den Regeln und den vor­ge­ge­be­nen Ant­wor­ten auf die Krisen des Lebens ist für viele ein nicht hin­ter­frag­tes System von Glau­bens­ele­men­ten. Dieses System von Glau­bens­ele­men­ten genügt sich selbst und braucht daher kei­ner­lei logi­sche, sach­li­che oder geschicht­li­che Begrün­dung (mehr). Diese gedank­li­che Kon­struk­tion ist gewis­ser­ma­ßen selbst­tra­gend, sie bedarf keiner Ver­an­ke­rung oder Erklä­rung, sie ist auf­grund ihrer bloßen Exis­tenz ein sich selbst recht­fer­ti­gen­des Lebenskonzept.

Für mich ist das ein Bei­spiel für die große Fle­xi­bi­li­tät unse­res Gehirns, das auch mit einer illu­sio­nä­ren Welt­sicht zurecht­kommt, wenn man es denn mit der Aner­ken­nung von Logik und Empi­rie, somit der intel­lek­tu­el­len Red­lich­keit, nicht so genau nimmt.

Solche durch Auto­sug­ges­tion oder durch früh­kind­li­che Indok­tri­na­tion erwor­be­nen Glau­bens­vor­stel­lun­gen gip­feln dann schließ­lich in der ehr­furchts­vol­len Ver­beu­gung vor dem im eige­nen Kopf erzeug­ten Wesen, das inzwi­schen zu einer sub­jek­ti­ven Wirk­lich­keit gewor­den ist. Dieses Wesen darf dann wegen der erwünsch­ten noch enge­ren Bezie­hung selbst­ver­ständ­lich an den Gläu­bi­gen Ansprü­che stel­len, denn ein sol­cher »Bund« wertet ihn, den Gläu­bi­gen, in ein­ma­li­ger Weise auf.

Der Gläu­bige hat sich auf diese Weise aber doch nur selbst Bedeu­tung verliehen.

U. L., 4. Jan. 2014