Leseprobe aus Kapitel V: Nachdenken über Gott, Gottvertrauen und Moral

Nachdenken über Gott, Gottvertrauen und Moral

 

In diesem Kapi­tel geht es let­ztlich um die Frage, ob ein Men­sch auch ohne Gottes­glauben  moralisch han­deln kann, ob also Moral ohne Gott möglich ist.

Selb­st der katholis­che The­ologe Hans Küng (*1928), Autor viel­er mit Gott und Chris­ten­tum befasster Büch­er, beken­nt seine Rat­losigkeit, wenn er in seinem Buch »Cre­do« schreibt:

»… ich geste­he darüber hin­aus, dass ich nach Auschwitz, dem Gulag und zwei Weltkriegen erst recht nicht mehr voll­mundig von ›Gott, dem Allmächti­gen‹ reden kann, der da als ›ab-soluter‹ Machthaber ›los-gelöst‹, unberührt von allem Leid, doch alles dirigiert, alles macht oder min­destens alles machen kön­nte, wenn er wollte, und der dann doch angesichts größter Naturkatas­tro­phen und Men­schheitsver­brechen nicht ein­greift, son­dern schweigt und schweigt und schweigt …« 12

Es ist aber nicht nur das ver­ab­scheuungswürdi­ge Ver­hal­ten von Men­schen, in viel größerem Maße ist es die Natur, die durch Krankheit­en und Katas­tro­phen die Ursache schlimm­sten Elends darstellt. Lep­ra, Malar­ia, Pest und Krebs, um nur einige der ver­heeren­den Krankheit­en zu nen­nen, haben über die Jahrtausende Hun­derte von Mil­lio­nen Men­schen erbärm­lich dahin­veg­etieren lassen und um Lebens­glück und Leben gebracht. Die Hil­fer­ufe nach oben zu Gott wen­de­ten das Schick­sal der Betrof­fe­nen nicht, erst mod­erne Wis­senschaft und Medi­zin waren in der Lage, hier eine entschei­dende, wenn auch noch längst keine voll­ständi­ge Hil­fe zu leisten.

Im Jahre 2005 jährte sich zum 250. Mal eine Naturkatas­tro­phe, die wie keine andere das religiöse und natur­wis­senschaftliche Denken verän­dert hat­te. Das schwere Erd- und See­beben von Liss­abon am 1. Novem­ber 1755 ver­an­lasste Philosophen, Natur­wis­senschaftler und Dichter wie Kant, Voltaire oder Goethe, von der Vorstel­lung Abschied zu nehmen, dass solche Natur­ereignisse als Strafen Gottes anzuse­hen sind. Nach und nach set­zte sich die Ein­sicht durch, dass Erd­beben, Vulka­naus­brüche, Wirbel­stürme und Flutwellen natür­liche Vorgänge sind, die mit der physikalis­chen Natur ein­er unruhi­gen Erde erk­lärt wer­den kön­nen. Kant (1724–1804) entwick­elte daraufhin eine auf natur­wis­senschaftlich­er Basis begrün­dete The­o­rie der Erd­beben. Sie war aus heutiger Sicht zwar falsch, aber sie stellte eine nach­drück­liche Abkehr von der Auf­fas­sung dar, dass solche Men­schen ver­schlin­gen­den Naturkatas­tro­phen wie das Beben von Liss­abon eine Rache Gottes für sünd­haftes Ver­hal­ten darstellten.

Dieses Beben hat­te für das Denken der dama­li­gen Zeit auch deswe­gen umwälzende Fol­gen, weil mit Liss­abon eine katholisch geprägte Stadt am Mor­gen des Aller­heili­gen­t­ages mit voll beset­zten Kirchen und Kathe­dralen getrof­fen wurde. Das Erd­beben, die sieben Meter hohe Flutwelle und der anschließende Brand töteten wohl an die 30 000 Men­schen. Andere Berichte sprechen gar von 60 000 bis über 100 000 Toten, zählt man die Opfer des ganzen Küsten­bere­ichs mit. Die Ver­wirrung war vol­lkom­men: Gott löschte eine katholis­che Metro­pole aus, zu dama­liger Zeit die viert­größte Stadt Europas, an einem heili­gen Tag, an dem sich fast alle Men­schen lobpreisend in den Häusern Gottes befan­den. Voltaire (1694–1778), unab­hängiger und kri­tis­ch­er in seinem Denken als der Kirche lieb sein kon­nte, schrieb ein pro­vokantes Gedicht über das Erd­beben (Poème sur la désas­tre de Lis­bonne) und regte damit eben­falls eine Diskus­sion an über die frag­würdi­ge, Gott unter­stellte Rolle bei Naturkatastrophen.

Von Johann Wolf­gang von Goethe (1749–1832) weiß man, dass das Beben von Liss­abon ihn erhe­blich irri­tierte und seine vor­sichtige Dis­tanzierung von Kirche, Chris­ten­tum und einem ange­blich gerecht­en Gott ein­leit­ete. Der junge Goethe schreibt anlässlich dieses Ereigniss­es in »Dich­tung und Wahrheit«:

»Der Knabe, der alles dieses wieder­holt vernehmen musste [gemeint sind die vie­len Berichte und religiösen und philosophis­chen Kom­mentare über das Erd­beben, U. L.], war nicht wenig betrof­fen. Gott, der Schöpfer und Erhal­ter Him­mels und der Erden, der ihm die Erk­lärung des ersten Glauben­sar­tikels so weise und gnädig vorstellte, hat­te sich, indem er die Gerecht­en mit den Ungerecht­en gle­ichem Verder­ben preis­gab, keineswegs väter­lich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Ein­drücke herzustellen, welch­es über­haupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schrift­gelehrten selb­st sich über die Art, wie man ein solch­es Phänomen anzuse­hen habe, sich nicht vere­ini­gen kon­nten.« 13

Das Beben bildete eine tiefe Zäsur in der europäis­chen Geis­tes­geschichte. Die opti­mistis­che Sicht, die der Philosoph und Uni­ver­sal­gelehrte Got­tfried Wil­helm Leib­niz (1646–1716) in die Worte »von der besten aller Wel­ten« gefasst hat­te, wich nüchtern­er Betra­ch­tung. Denn denk­enden und reflek­tieren­den Men­schen war es offen­bar kaum oder gar nicht mehr möglich, die über Wort und Schrift behauptete Allmächtigkeit und Barmherzigkeit Gottes mit dem tat­säch­lichen Geschehen und dem damit ver­bun­de­nen men­schlichen Lei­den in Übere­in­stim­mung zu brin­gen. Zwei große Naturkatas­tro­phen der jün­geren Zeit, der Tsuna­mi in Südostasien im Jahre 2004 und das Erd­beben in Kaschmir im Jahre 2005, mit Hun­dert­tausenden Toten, Mil­lio­nen Ver­let­zten, zer­störten Häusern und unter erbärm­lichen Bedin­gun­gen dahin­veg­etieren­den Men­schen, haben bei uns das Nach­denken über die Unvere­in­barkeit der herkömm­lichen Gottesvorstel­lung mit der beobacht­baren Wirk­lichkeit erneut aufleben lassen. In den Fernse­hbericht­en war zu sehen, wie völ­lig ver­störte kleine Kinder zwis­chen Trüm­mern und Leichen umherir­rten. Ihre Eltern waren in der Flutwelle umgekom­men, sie selb­st kon­nten noch nicht ein­mal ihren eige­nen Namen nen­nen. Wo ist der Gott, der ange­blich die Kinder liebt? Inter­essiert er sich über­haupt für das Geschehen auf dieser Erde? Oder kön­nte es sein, dass wir die völ­lig falschen Fra­gen stellen?

Und in der Tat stellen sich Asi­at­en, sofern sie nicht Chris­ten oder Moslems sind, son­dern Anhänger des Hin­duis­mus, des Bud­dhis­mus, des Kon­fuzian­is­mus oder des Shin­to­is­mus, solche Fra­gen nicht. Wer keinen per­sön­lichen beziehungsweise per­son­alen, dem Men­schen gle­ichen­den Gott verehrt, der gerecht und gütig ist, der straft und vergibt, der kann sich, wenn ihn das Schick­sal heim­sucht, auch nicht beschw­eren oder gar auflehnen. Einen Gott, der für das Geschehen im Leben ver­ant­wortlich zu machen wäre oder der einem bei der Sinnsuche helfen kön­nte, gibt es bei ihnen nicht. Das Lei­den wird als unver­mei­dlich­es Schick­sal angesehen.

Beim Bud­dhis­mus wird sog­ar Leben und Lei­den gle­ichge­set­zt, man kann dem Lei­den zunächst nicht ent­fliehen. Aber man kann dem Lei­den ent­ge­gen­treten, indem man dessen Ursachen und Fol­gen bekämpft und dadurch pos­i­tives Kar­ma ansam­melt. Durch genü­gend viel pos­i­tives Kar­ma, das man durch gute Werke erwirbt, beste­ht schließlich – so die Überzeu­gung – die Möglichkeit der Selb­ster­lö­sung aus diesem durch Wiederge­burten gekennze­ich­neten Lei­den­skreis­lauf. Der gläu­bige Moslem dage­gen betra­chtet sich als Allahs absoluten Unter­tan. Schick­salss­chläge wie Erd­beben oder Krankheit­en begreift er als ober­sten Willen, den es ähn­lich christlich­er Ein­stel­lung nicht in Frage zu stellen gilt.

Anlässlich der erwäh­n­ten Flutkatas­tro­phe trat­en die damals höch­sten Vertreter der bei­den großen christlichen Kirchen Deutsch­lands, Kar­di­nal Lehmann und Bischof Huber, am 9. Jan­u­ar 2005 bei einem öku­menis­chen Gedenkgottes­di­enst im Berlin­er Dom auf. Bei­de rangen in ihren Predigten, rat- und hil­fe­suchend gen Him­mel blick­end, nach den hier noch möglichen Worten. Kar­di­nal Lehmann ver­glich das Tsuna­mi-Unglück mit der Sint­flut der Bibel und erin­nerte an frühere Naturkatas­tro­phen, die Atom­bomben­ab­würfe, an Auschwitz und den Holo­caust. »Es gibt eben unsäglich­es, durch und durch unver­ständlich­es Leid. Auch die Bibel ken­nt die Klage gegen Gott.« Als Christ finde er keine andere Antwort als den Blick auf das Kreuz Jesu. Und er fragte laut und vernehm­lich: »Gott, wo warst Du?«

Die Hil­flosigkeit und die Bedrück­ung, die aus den Worten des Kar­di­nals sprachen, fie­len mir auf. Sie hat­ten nichts mehr von jen­er selb­st­sicheren, ja manch­mal selb­s­ther­rlichen Gewis­sheit eines hohen kirch­lichen Amt­strägers, der schon von Berufs wegen unbe­d­ingte Glaubenssicher­heit ausstrahlen muss. Ich fand seine Äußerun­gen bemerkenswert, weil sie in ihrer offen gezeigten Rat­losigkeit auf mich aufrichtig und wahrhaftig wirk­ten. Ein ähn­lich bemerkenswertes Wort gibt es von Papst Johannes Paul II. anlässlich ein­er Gen­er­alau­dienz im Jahr 2002:

»Es gibt neben dem Schw­ert und dem Hunger eine noch größere Tragödie, näm­lich die des Schweigens Gottes, der sich nicht mehr offen­bart und sich schein­bar in seinem Him­mel eingeschlossen hat, so als sei er des men­schlichen Tuns über­drüs­sig.« 14

Erd­beben wie das in Haiti 2010 mit über 300 000 Toten und eben­so vie­len Ver­let­zten oder das gewaltige Beben von 2011, das mit dem Namen Fukushi­ma ver­bun­den ist und »nur« etwa 20 000 Tote forderte, aber infolge davon gewaltige bauliche, land­schaftliche und ökol­o­gis­che Schä­den und – wie immer bei solchen Katas­tro­phen – kaum zu heilen­des men­schlich­es Leid verur­sachte, brin­gen die Kirchen regelmäßig in Erk­lärungsnöte. Ihnen fällt dann meist nur ein, die Über­leben­den aufzu­fordern, für die Opfer zu beten. Aber welchen Sinn soll eine solche Anrufung Gottes haben? Wenn man ihm offen­bar zutraut, den Getöteten und Gequäl­ten Gnade und Hil­fe zukom­men zu lassen, dann wäre es doch sehr viel naher­liegen­der, ihn darum zu bit­ten, solche Katas­tro­phen erst gar nicht ein­treten zu lassen. Aber das traut man der Kraft der Gebete oder der Macht des ange­beteten Gottes offen­bar nicht zu. Dass Chris­ten sich neben Gebeten aktiv an der Hil­fe für in Not ger­atene Men­schen beteili­gen, sei aus­drück­lich erk­lärt. Aber darin unter­schei­den sie sich nicht von anderen mit­füh­len­den Menschen.

4. Was andere denken und wie ich es sehe

Ende Sep­tem­ber 1997 erschüt­terte ein schw­eres Erd­beben die mit­telital­ienis­che Region Umbrien und ließ am Wirkung­sort des heili­gen Franz von Assisi die Dop­pelkirche San Francesco des Franziskan­erk­losters ein­stürzen. Dabei wur­den – wie die Tage­spresse sein­erzeit ver­meldete – zwei betende Priester von der her­ab­stürzen­den Kirchen­decke uner­wartet und plöt­zlich um ihr Leben gebracht. Ihre Fröm­migkeit und ihr Beten halfen ihnen offen­bar nicht, sie wur­den ihnen vielmehr zum Ver­häng­nis, ver­gle­ich­bar dem Geschehen infolge des Erd­bebens von Liss­abon 1755, bei dem beson­ders viele Men­schen während des Gottes­di­en­stes in den städtis­chen Kirchen und Kathe­dralen ums Leben kamen. Hört Gott die Gebete nicht oder will er sich in seinem auf All­wis­senheit und All­macht grün­den­den Han­deln nicht von den für ihn irrel­e­van­ten men­schlichen Motiv­en bee­in­flussen lassen?

Selb­st Priester und Bis­chöfe ver­lassen sich, wenn sie zum Beispiel krank wer­den, nicht mehr nur auf das Beten, son­dern kon­sul­tieren Ärzte und lassen sich von mod­ern­ster medi­zinis­ch­er Wis­senschaft kuri­eren. Ja, sog­ar Papst Johannes Paul II. und »Stel­lvertreter Gottes auf Erden«, der im Früh­jahr 2005 schw­er erkrank­te, nutzte bis zu seinem Ableben mehr medi­zinis­che Tech­nik, als ein nor­maler Sterblich­er je zu sehen bekommt. Auf die weltweit und mit größter Inbrun­st gesproch­enen Gebete allein wollte man sich offen­bar nicht verlassen.

Chris­ten, über­haupt Gottgläu­bige, glauben an die Kraft des Gebetes. Sie glauben, dass Gott sie erhört und sie beispiel­sweise von ein­er tück­ischen Krankheit heilen oder den Ver­lauf ein­er schw­eren Oper­a­tion gün­stig bee­in­flussen kann. Bei Ein­treten des erfle­ht­en Erfol­gs ist zwar nicht fest­stell­bar, ob Gott hier helfend einge­grif­f­en hat, auf jeden Fall aber bestärkt es den Glauben an Gottes Mith­il­fe. Fast alles, was sich Men­schen erhof­fen kön­nen, wird Gott im Gebet vor­ge­tra­gen. Allerd­ings betet man offen­sichtlich nur in jenen Fällen, bei denen das erwün­schte Ein­treten des Erfol­gs nach aller Lebenser­fahrung prinzip­iell möglich ist: bei der Heilung ein­er Lun­genentzün­dung, der Geburt eines gesun­den Kindes oder etwa der erfle­ht­en Rück­kehr des geliebten Lebenspart­ners. Das Nachwach­sen eines infolge Krankheit amputierten Beines oder durch Unfall ver­lore­nen Auges oder gar das Wieder­erwachen eines ver­stor­be­nen Kindes wird trotz der Allmächtigkeit, die man Gott attestiert, offen­bar nicht durch ein Gebet erhofft. Zu offenkundig ist hier die Aus­sicht­slosigkeit eines Gebets erkennbar. Aus Wall­fahrtsstät­ten wie dem franzö­sis­chen Lour­des ist von solchen Gebeten oder gar Heilun­gen auch noch nie berichtet worden.

Und eine weit­ere ket­zerische Frage kann ich in diesem Zusam­men­hang nicht unter­drück­en: Wie groß ist eigentlich das immer wieder beschworene Gottver­trauen, wenn selb­st der Papst als »Stel­lvertreter Gottes« im Panz­er­glas-geschützten Papamo­bil herum­fährt und zum Beispiel die Gotteshäuser vor­sicht­shal­ber durch einen Blitz­ableit­er geschützt werden?

Einem Gläu­bi­gen mögen diese let­zten Zeilen gottes­läster­lich und ver­let­zend vorkom­men. Aber es muss erlaubt sein, solche Fest­stel­lun­gen zu tre­f­fen. Ich frage mich ganz vorurteils­frei und ohne jede belei­di­gende Absicht: Wann ist je den Bedrängten durch Beten Hil­fe von oben gekom­men? Gebetet wurde und wird seit Men­schenge­denken in den Häusern mit Kranken und Ster­ben­den, auf den Schlacht­feldern der bis heute stat­tfind­en­den Kriege, in Luftschutzkellern mit zu Tode verängstigten Men­schen, in den großen Ver­nich­tungslagern der Nation­al­sozial­is­ten und Kom­mu­nis­ten, unter den Trüm­mern der durch Erd­beben zer­störten Häuser. Wur­den je die Schreie und Gebete in den Folterkellern der Inqui­si­tion oder aus den bren­nen­den Scheit­er­haufen erhört? Haben diese Men­schen etwa nicht inten­siv genug geglaubt, nicht inständig genug gebetet?

Worauf grün­den die Mil­lio­nen Gläu­bi­gen ihre Hoff­nung auf Erhören ihrer Gebete, wenn man doch weiß, dass trotz verzweifel­ten Hof­fens und Fle­hens Men­schen in unfass­bar großer Anzahl durch Naturkatas­tro­phen und Seuchen ein viel zu früh­es Ende fan­den? Welchen Grund sollte ich haben, mit der Hil­fe Gottes zu rech­nen, wenn er offen­bar unbeteiligt zusah, wie Mil­lio­nen Juden in einen elen­den Gas­tod geschickt wur­den? Auch sie richteten ihre von Todesäng­sten geze­ich­neten Blicke nach oben. Hat Gott dem Lei­den der Men­schen nur inter­essiert zugeschaut? In Anbe­tra­cht der ihm zugeschriebe­nen Allmächtigkeit müsste man ihn eigentlich wegen unter­lassen­er Hil­feleis­tung anklagen.

Bei nüchtern­er Betra­ch­tung muss man fest­stellen – ich bin jeden­falls überzeugt davon – dass Hil­fe, wenn sie denn ein­trifft, auch ohne Beten kommt, und zwar von anderen Men­schen oder durch Selb­sthil­fe oder auf­grund zufäl­li­gen Geschehens. Zwar wird der Gläu­bige den ihm zuteil gewor­de­nen Bei­s­tand wieder als das Ein­greifen Gottes deuten. Den Beweis für seine Behaup­tung wird er natür­lich schuldig bleiben, so wie auch ich nicht beweisen kön­nte, dass Gott hier nicht seine Hand im Spiel gehabt hätte. Die Beweis­last für seine Behaup­tung trägt allerd­ings der Gläu­bige. Denn ich kann das Geschehen auf natür­liche Art erk­lären, der Andere sieht darin das Wirken Gottes, der sich lediglich der natür­lichen Mit­tel bedi­enen würde. Das aber ist eine über­flüs­sige und irra­tionales Denken fördernde Deu­tung. Wenn mein Auto ste­hen geblieben ist, vielle­icht wegen eines ver­stopften Ver­gasers, dann hil­ft die Aus­sage, dass »der Teufel ins Auto gefahren sei« dem her­beigerufe­nen ADAC-Helfer auch nicht weiter.

Das bekan­nte, fast zynisch zu nen­nende Wort »Hilf Dir selb­st, dann hil­ft Dir Gott« bringt jeden­falls die Lebenser­fahrung zum Aus­druck, dass die schein­bar von Gott erhal­tene Hil­fe nichts anderes ist als das in der Not erfol­gte selb­st­tätige Ein­greifen. Dabei ist sicher­lich richtig, dass inten­sives und glaubenser­fülltes Beten Kräfte mobil­isieren kann, die weit über das hin­aus­ge­hen kön­nen, was man sich selb­st zuvor zutraute. Was dem Gläu­bi­gen dann wie Gottes Hil­fe erscheint, stellt für den Nicht­gläu­bi­gen ein Phänomen dar, das sich schlicht psy­chol­o­gisch erk­lären lässt.

Aber vielle­icht ver­langt die soziale Natur des Men­schen ein­fach so inten­siv nach einem Part­ner, dass man ihn sich ein­fach nur vorstellen muss, um das Gefühl nach Nähe und Kom­mu­nika­tion zu befriedi­gen. Offen­sichtlich lebt so manch Bedrängter in ein­er – wenn auch nur gedanklichen – Gemein­schaft leichter, hoff­nungsvoller und erfüll­ter. Viele Men­schen brauchen offen­bar ein allmächtiges »Du«, dem sie ihre Wün­sche, Hoff­nun­gen, Verzwei­flung anver­trauen kön­nen. Es ist gut vorstell­bar, dass Men­schen in seel­is­ch­er Not in ein­er solchen verin­ner­licht­en Beziehung ihren Trost finden.

»Gott lässt die Sonne aufge­hen über Bösen und Guten, und er lässt reg­nen über Gerechte und Ungerechte.« Man kön­nte dieses Bibel­wort ergänzen und sagen, er lässt Hil­fe zuteil­w­er­den den Betenden und den nicht Betenden. Was aber nichts anderes bedeuten würde, als dass mein Blick nach oben keinen Ein­fluss darauf hat, wie Gott zu mir ste­ht. Ich kann in kein­er Weise erken­nen, ob meine Gebete erhört wer­den, ob mein Ver­hal­ten in irgen­dein­er Weise von Gott bew­ertet wird. Zurück bleibt also die alte Rat­losigkeit und Ungewis­sheit darüber, ob und wieweit Gott in unser Leben ein­greift, ja, ob er über­haupt existiert.

Wenn Gott über die Eigen­schaft All­wis­senheit ver­fügt, dann wüsste er, wie schw­er so viele Men­schen mit der Frage rin­gen, ob es ihn gibt und ob er sich für uns Men­schen inter­essiert. Dann würde er erken­nen, wie verzweifelt sie seine Antwort erfle­hen und wie sehr sie sich nach sein­er beschützen­den Hand sehnen. Die Kirche »weiß«, dass Gott uns geschaf­fen hat, dass er uns unendlich liebt, dass er allmächtig und all­wis­send ist, sie weiß ange­blich, was Gott will, sie behauptet so viel von ihm zu wis­sen – warum er sich hier unten »auf Erden« so sel­ten sehen lässt, dass er sich ger­adezu vor uns zu ver­steck­en scheint, weiß sie offen­bar nicht.

Wenn wir Gott in sein­er Uner­forschlichkeit und Rät­sel­haftigkeit mit unserem Ver­stand nicht erfassen und schon gar nicht uns sein­er Exis­tenz vergewis­sern kön­nen, wäre es doch an ihm, sich uns zu offen­baren. Aber in ein­er ver­ständlichen und ein­deuti­gen Weise, nicht über offen­sichtlich von Men­schen niedergeschriebene Texte wie die Bibel, den Koran, die Tho­ra oder zum Beispiel die hin­duis­tis­chen Veden. Diese ange­blich göt­tlichen Offen­barun­gen haben alle ihre eige­nen, miteinan­der nicht verträglichen Auf­fas­sun­gen von Gott und der Welt, haben bis heute zu erbit­terten religiösen Auseinan­der­set­zun­gen und dem gegen­seit­i­gen Abschlacht­en im Namen ihres jew­eili­gen Gottes geführt. Jede dieser Wel­tre­li­gio­nen beansprucht, den wahren Gott anzubeten.

Wenn Gott ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit, ein Inbe­griff der Moral ist, dann müsste es ihm doch sehn­lich­stes Anliegen sein, dem gegen­seit­i­gen Ver­fol­gen und Umbrin­gen des jew­eils Ander­s­gläu­bi­gen ein Ende zu bere­it­en. Gelun­gen ist dies bish­er nur den Men­schen selb­st, und zwar vor allem den Gesellschaften, die sich durch Aufk­lärung von der Vorherrschaft der Reli­gion befreien kon­nten. Gottes Wirken war dabei nicht zu erkennen.

Ist es denn zu viel erhofft, ist es kindlich naiv oder zeugt es von völ­ligem Missver­ste­hen des Wesens Gottes, eine ein­deutige Botschaft von ihm zu erwarten? Wenn diesem Gott an den Men­schen und an der Welt so viel liegt, wie es uns seine Vertreter hier auf Erden täglich verkün­den, dann wäre eine Demon­stra­tion sein­er Macht und seines Inter­ess­es an uns so unendlich hil­fre­ich. Kön­nte er nicht ein wahres Wun­der bewirken, also einen über­natür­lichen, die Naturge­set­ze außer Kraft set­zen­den Ein­griff in das Naturgeschehen vornehmen? Zum Beispiel kön­nte er in ein­er weltweit erkennbaren Schrift am Fir­ma­ment in der Sprache eines jeden Men­schen auf seine Exis­tenz hin­weisen oder allen tech­nis­chen Unmöglichkeit­en trotzend gle­ichzeit­ig auf allen Bild­schir­men dieser Welt erscheinen. Früher nutzte Gott ange­blich solche Wun­der, um seine Macht und Her­rlichkeit zu demon­stri­eren. Die Bibel berichtet von der spon­ta­nen Heilung Kranker und der Ver­wand­lung von Wass­er in Wein, von der Aufer­ste­hung von Jesus nach seinem Kreuzestod und sein­er späteren Him­melfahrt. Die katholis­che Kirche zum Beispiel ist noch heute von den über­natür­lichen Erschei­n­un­gen Marias in Lour­des und Fáti­ma überzeugt und sieht auch viele andere Wun­der – im Sinne von »nicht natür­lich erk­lär­bar« – als erwiesen an. Auch die anderen großen monothe­is­tis­chen Glaubenssys­teme ver­weisen auf Wun­der, um ihre Glaub­würdigkeit zu unterstreichen.

Ich sehe es allerd­ings schon vor mir: das mitlei­di­ge Lächeln von Gläu­bi­gen und Erleuchteten ob mein­er Naiv­ität und Ein­falt. Sie wer­den mir sagen, dass Gott sich so nicht her­aus­fordern ließe. Nur meine frei­willige Hin­wen­dung zum Glauben könne Erfolg haben, nur wenn ich mich ganz öffne und hingebe, wird er sich mir offen­baren. Mit dem Offen­baren ist das allerd­ings so eine selt­same Sache. Die weltweit zu allen Zeit­en aufge­trete­nen Seher, Erleuchteten und Propheten oder son­st wie durch den Besitz ange­blich göt­tlich­er Wahrheit­en aus­geze­ich­neten Men­schen kamen – nicht zulet­zt auf­grund ihrer unter­schiedlichen kul­turellen Prä­gun­gen – jew­eils zu ganz anderen Ein­sicht­en und Vorstel­lun­gen von Gott. Sie begrün­de­ten völ­lig unter­schiedliche Reli­gio­nen, basierend auf sehr unter­schiedlichen, ange­blich durch Gott inspiri­erten Tex­ten und bedin­gungs­los zu glauben­den heili­gen Sätzen. Natür­lich sahen sie in den anderen religiösen Überzeu­gun­gen zu bekämpfend­en Aber­glauben oder gar den Teufel am Werk. Die daraus ent­stande­nen Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen den Anhängern der jew­eils »wahren« Reli­gion und aus deren Sicht jew­eils Ungläu­bi­gen hal­ten in voller Inten­sität bis heute an. Selb­st inner­halb des Chris­ten­tums gibt es unzäh­lige, sich gegen­seit­ig nicht anerken­nende Vari­anten des recht­en Weges zu Gott. Sollte der »wahre« Gott das so gewollt haben?

Die Tat­sache, dass Gott sich so wenig ein­deutig äußert und nur über fast beliebig inter­pretier­bare Zeichen zu uns spricht und anson­sten »schweigt und schweigt und schweigt« (Küng), ist für mich ein beson­ders schw­er­wiegen­des Argu­ment gegen die Annahme eines Gottes, der die Welt ange­blich liebt und an uns inter­essiert sei. Aber auch die Exis­tenz so viel­er ver­schieden­er Reli­gio­nen mit je ein­er anderen Gottesvorstel­lung, die daraus fol­gen­den über Jahrtausende bis heute gegeneinan­der geführten Glauben­skriege und das gle­ichgültige Schweigen dieser Göt­ter angesichts der in ihren Namen began­genen, nicht mehr in Zahl und Maß fass­baren Ver­brechen gegen die Men­schlichkeit bilden für mich eine eben­so schw­er­wiegende Begrün­dung, dass es den uns sug­gerierten »lieben Gott« oder »barmherzi­gen Gott« nicht geben kann. Er ist schlicht und ein­fach eine gedankliche Kon­struk­tion, eine Wun­schvorstel­lung, ent­standen aus der tief emp­fun­de­nen Sehn­sucht der Men­schen nach Schutz, Hil­fe, Trost und Ori­en­tierung, gefördert durch eine den anderen in der Regel intellek­tuell über­legene Priesterkaste, die darin seit Men­schenge­denken eine Möglichkeit für sich sah, Macht und Ein­fluss über andere Men­schen zu gewinnen.

Auch wenn es heute sich­er sehr viele Priester und Pfar­rer gibt – das­selbe gilt auch für andere Glaubens­beken­nt­nisse – die aus voller Glauben­süberzeu­gung und mit allen ihren Kräften anderen Men­schen in bewun­dern­swert­er Weise Näch­sten­liebe und Zuwen­dung ent­ge­gen­brin­gen und keine Macht­in­ter­essen mehr ver­fol­gen, an der Tat­sache, dass sie ein­er Illu­sion anhän­gen, ändert sich für mich dadurch nichts. Und dass Mil­lio­nen Men­schen aus dieser bloßen Wun­schvorstel­lung Mut und Zuver­sicht gewin­nen und ihnen Gott oft als let­zte Ret­tung erscheint, bezweifele ich eben­falls nicht. Den­noch gilt für mich: Diese Art von Gottes­glauben und die Bilanz meines Nach­denkens über Gott und die Welt passen für mich nicht zusammen!

Was bin ich nun? Bin ich ein Athe­ist, der Gottes Exis­tenz strikt leugnet? Bin ich vielle­icht doch eher ein Agnos­tik­er, also ein­er, der das Göt­tliche für unerkennbar hält, aber dessen Exis­tenz nicht unbe­d­ingt verneint?

Als ein – hof­fentlich – mit Ver­nun­ft begabtes Wesen sehe ich mich nicht in der Lage, an den mir über unsere Kul­tur ver­mit­tel­ten »lieben Gott« zu glauben. Daher kann ich auch nicht die Vorstel­lung haben, von dieser göt­tlichen Instanz dere­inst erlöst zu wer­den. Wer ein­mal »vom Baum der Erken­nt­nis« gegessen hat, für den gibt es kein Zurück. Zu viele Wider­sprüche zwis­chen verkün­de­ter Botschaft und erlebter Wirk­lichkeit, zwis­chen Glauben und Wis­sen tun meinem Ver­stand weh. Daher ist mein Nicht-Glaube nicht auch eine Art »Glaube«, wie gern unter­stellt wird, son­dern eher die Überzeu­gung von der Nich­tex­is­tenz eines solchen höheren Wesens. Irgend­wo las ich ein­mal die – zugegeben polemisch klin­gende – Ansicht, Athe­is­mus als eine Art Glauben zu beze­ich­nen, entspräche der Auf­fas­sung, dass Gesund­heit auch nur eine Art Krankheit sei.

Ich frage mich: Wirkt es über­he­blich, gar arro­gant, wenn ich meine, dass das Beken­nt­nis zu ein­er als got­tfrei gedacht­en Welt etwas mit philosophisch-natur­wis­senschaftlich­er Bil­dung, mit intellek­tueller Redlichkeit und per­sön­lichem Mut zu tun hat?

Aber auch das weiß ich: Mein und unser aller Ver­stand ist begren­zt, vieles kön­nen wir nicht sehen, vieles nicht denken und begreifen, noch viel mehr nicht wis­sen, und wer weiß, wie viel wir nicht ein­mal erah­nen? Es wird dere­inst Antworten geben, zu denen wir heute noch nicht ein­mal die Fra­gen dazu haben. Die in der Unbe­grei­flichkeit der Real­ität ver­bor­gene poten­zielle Per­spek­tive, in hun­dert Jahren vielle­icht über ganz andere Ein­sicht­en zu ver­fü­gen, sollte uns vor bloßen Behaup­tun­gen über »Gott und die Welt« bewahren.

So halte ich denn meinen Geist und meine Seele – so ich denn eine hätte – offen für Ein­sicht­en, die mir vielle­icht bish­er ver­bor­gen geblieben sind. Der Christ und der Mus­lim freuen sich auf den Him­mel, der ihnen dere­inst unendliche Freuden bescheren wird. Ich bin da beschei­den­er und freue mich darüber, ein wenn auch winziger Teil des Uni­ver­sums zu sein, der sich vorüberge­hend als ein »Ich« empfind­en und sich dieses unbe­grei­flichen Uni­ver­sums bewusst wer­den konnte. …