Religion und Wissenschaft – Ein Riss durch die Welt

(Tages­spie­gel 19. April 2012)
Ein Riss durch die Welt

Reli­giö­ses und wis­sen­schaft­li­ches Denken klaf­fen immer weiter aus­ein­an­der. Aber wie­weit dürfen beide Welt­bil­der in einem sich auf­ge­klärt nen­nen­den Men­schen auf­ein­an­der­tref­fen, ohne intel­lek­tu­ell unred­lich zu sein? Uwe Leh­nert

Beken­nen­den Chris­ten gemein­sam ist im Prin­zip der heils­ge­wisse Glaube an einen barm­her­zi­gen Gott, an die Erlö­sungs­be­dürf­tig­keit des Men­schen, an die Sün­den­ver­ge­bung durch den Opfer­tod von Jesus, an die eigene Wie­der­auf­er­ste­hung nach dem Tod, an eine wie auch immer gear­tete Hölle als Ort ewiger Ver­damm­nis. Wie viele Kir­chen­mit­glie­der aber sind wirk­lich noch beken­nende Christen?

Das Spek­trum christ­li­cher Glau­bens­pra­xis in Deutsch­land reicht vom Krea­tio­nis­mus, also einer wört­li­chen Inter­pre­ta­tion der Bibel, bis hin zum Athe­is­mus in der Kirche. Eine Studie über den Glau­ben der Hessen ergab, dass Chris­ten im enge­ren Sinne sogar inner­halb der Kir­chen eine Min­der­heit darstellen.

Im Biologie‑, Physik- oder Lebens­kun­de­un­ter­richt erhal­ten Schü­ler Ein­sich­ten, die viel­fach reli­giö­sen Auf­fas­sun­gen wider­spre­chen. Die Frage ist, wie­weit dürfen reli­giö­ses und wis­sen­schaft­li­ches Welt­bild in einem sich auf­ge­klärt nen­nen­den Men­schen aus­ein­an­der­klaf­fen, ohne intel­lek­tu­ell unred­lich zu sein?

Eine natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tierte Phi­lo­so­phie nimmt an, dass die Welt mate­ri­ell-ener­ge­ti­scher Natur ist. Über­na­tür­li­che Wesen­hei­ten sind aus natu­ra­lis­ti­scher Sicht weder erfor­der­lich noch erkenn­bar. Von phi­lo­so­phi­scher und theo­lo­gi­scher Bedeu­tung sind heute vor allem die Erkennt­nisse der Kos­mo­lo­gie, Quan­ten­phy­sik, Evo­lu­ti­ons­theo­rie, Hirn­for­schung und Soziobiologie.

Kos­mo­lo­gisch beginnt unsere Welt mit einer logi­schen Unmög­lich­keit, der Erschaf­fung aus dem Nichts. Schließ­lich sagt uns unsere Lebens­er­fah­rung, dass aus Nichts nichts ent­ste­hen kann. Ein Blick in die bizarre Welt des Mikro­kos­mos erlaubt es, diesen Wider­spruch auf­zu­lö­sen. Dort wartet die Quan­ten­theo­rie mit Phä­no­me­nen auf, die unse­rer All­tags­lo­gik voll­stän­dig zuwi­der laufen.

Das Gesetz der Kau­sa­li­tät, über­haupt die Prin­zi­pien unse­rer All­tags­lo­gik gelten dort weit­ge­hend nicht mehr. Unsere All­tags­lo­gik gilt offen­bar nur im Meso­kos­mos, also im Bereich, in dem wir kör­per­lich agie­ren und in dem sich Anschau­ung, Spra­che und Denken ent­wi­ckelt haben.

Die Unver­ein­bar­keit bestimm­ter Erkennt­nisse der Kos­mo­lo­gie und Mikro­phy­sik mit unse­rer All­tags­lo­gik lässt sich nur auf­he­ben, wenn wir die uns ver­traute, mit unse­rem Denken evo­lu­tio­när ent­stan­dene und auf Basis der Kau­sa­li­tät arbei­tende Logik als einen Spe­zi­al­fall einer umfas­sen­de­ren Logik auf­fas­sen. Ähn­lich der Newton’schen Him­mels­me­cha­nik, die sich als Spe­zi­al­fall der wesent­lich umfas­sen­de­ren Einstein’schen Rela­ti­vi­täts­theo­rie erwies. Die Struk­tu­ren unse­rer der­zeit als gültig ange­se­he­nen Logik ent­spre­chen offen­bar nicht voll­stän­dig den Struk­tu­ren der Wirklichkeit.

Der Astro­phy­si­ker Ste­phen Haw­king erläu­tert in seinem Buch „Der große Ent­wurf“ seine Vor­stel­lun­gen vom Ursprung des Uni­ver­sums. Einen Schöp­fer hält er für ent­behr­lich. Er leitet aus seinen Glei­chun­gen ab, dass das Uni­ver­sum nicht erschaf­fen wurde, son­dern aus dem Nichts ent­stand. In keinem seiner Glei­chungs­sys­teme tauche auch nur der Hauch einer Idee auf, unser Uni­ver­sum könnte das Ergeb­nis eines Schöp­fungs­ak­tes sein.

Äußert sich hier fre­vel­haf­ter Über­mut, gar mensch­li­che Ver­mes­sen­heit oder nur die kühle und zwangs­läu­fige Logik kos­mo­lo­gi­scher Rechen­mo­delle? Wir müssen uns wohl damit abfin­den, mit dem All­tags­ver­stand nicht begrei­fen zu können, welche Prin­zi­pien jen­seits des uns Sicht- und Ver­steh­ba­ren unsere Exis­tenz her­vor­ge­bracht haben. Es ist diese unüber­wind­lich erschei­nende Grenze, die zu der theo­lo­gi­schen Behaup­tung führt, es gäbe über die erkenn­bare Rea­li­tät hinaus eine Tran­szen­denz, zu der wir zwar keinen Zugang hätten, wohl aber geof­fen­barte Infor­ma­tio­nen. Die Beweis­last für eine solche Exis­tenz­be­haup­tung trägt aber der Behauptende.

Auch die Tat­sa­che, dass das Leben auf dieser Erde und das Auf­tau­chen des Men­schen keinem pla­nen­den Desi­gner, son­dern der Fähig­keit der Mate­rie zur Selbst­or­ga­ni­sa­tion zu ver­dan­ken sind, fällt unse­rem auf Ziel und Sinn ori­en­tier­ten Denken schwer zu glau­ben. Die Darwin’sche Bot­schaft lautet: In der Pflan­zen- und Tier­welt exis­tiert das, was sich aus dem Zusam­men­spiel von zufäl­li­ger Erb­gut­va­ria­tion und Ein­wir­kung der Umwelt erge­ben hat und fort­pflan­zen konnte, alles andere hat sich nicht durch­ge­setzt und ist folg­lich nicht vorhanden.

Das Exis­tie­rende erscheint uns als gewollt, weil wir gewohnt sind, Zweck­mä­ßi­ges und Ange­pass­tes in den Kate­go­rien von Ziel und Plan zu inter­pre­tie­ren. Aber selbst die kom­ple­xes­ten Orga­nis­men mit den raf­fi­nier­tes­ten Regel- und Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tungs­sys­te­men sind nicht das Ergeb­nis plan­vol­ler Schöp­fung, sie sind die in einem Mil­li­ar­den Jahre wäh­ren­den Pro­zess von zufäl­li­ger Erbän­de­rung und natür­li­cher Aus­lese geform­ten Resultate.

Die christ­li­che Auf­fas­sung von der len­ken­den Schöp­fer­hand hinter aller Ent­wick­lung steht mit ihrem teleo­lo­gi­schen (ziel­ge­rich­te­ten) Natur­ver­ständ­nis im logi­schen Wider­spruch zur Evo­lu­ti­ons­theo­rie, die eben nicht ziel­ori­en­tiert argu­men­tiert. Die Vor­stel­lung von einem plan­voll vor­ge­hen­den Schöp­fer ist auch ent­behr­lich, weil sie keinen ein­zi­gen Evo­lu­ti­ons­schritt ver­ständ­lich macht, sie ver­la­gert das Erklä­rungs­pro­blem ledig­lich in Rich­tung eines in seiner Exis­tenz uner­klär­ten Schöpfers.

Hier stehen sich zwei kon­kur­rie­rende Erklä­rungs­an­sätze gegen­über: ein teleo­lo­gi­scher, vom Ziel der Ent­wick­lung her den­kend, und ein kau­sa­ler, von den Ursa­chen her den­kend. Der christ­li­che Glaube erklärt die Welt und den Men­schen inten­tio­nal, aus­ge­hend vom Willen Gottes. Die Natur­wis­sen­schaft denkt und erklärt kausal, aus­ge­hend von den mate­ri­ell-ener­ge­ti­schen Gegebenheiten.

Die Gül­tig­keit der Evo­lu­ti­ons­theo­rie wird auf­grund der erdrü­cken­den Beweis­last von den Wis­sen­schaf­ten, ja selbst von der katho­li­schen und evan­ge­li­schen Kirche im Grund­satz nicht mehr bestrit­ten. Den­noch wird die Frage ihrer Bedeu­tung in Bezug auf das Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen kei­nes­falls ein­hel­lig beant­wor­tet. Für die Kirche bleibt der Mensch das gott­ge­wollte Ziel der Evo­lu­tion und der End­punkt, ja die Krö­nung dieser Ent­wick­lung. Wenn ich aber von der Rich­tig­keit der Evo­lu­ti­ons­theo­rie über­zeugt bin, wel­chen Anlass sollte ich dann haben, einer etwa drei­tau­send Jahre alten bibli­schen Legende Glau­ben zu schen­ken, dass ich mein Dasein und meine Bedeu­tung in dieser Welt einem über­na­tür­li­chen Schöp­fungs­akt verdanke?

Dass schließ­lich die höchste Aus­for­mung aller Exis­tenz, näm­lich Geist und Bewusst­sein, eben­falls nur eine Erschei­nungs­form des Mate­ri­el­len sein sollen, das erscheint über­haupt nicht mehr begreif­bar. Aber mit dem Auf­kom­men der moder­nen Natur­wis­sen­schaf­ten gewann die Auf­fas­sung immer mehr Anhän­ger, dass das mate­ri­elle Sein die eigent­li­che Wirk­lich­keit dar­stelle und Geist und Bewusst­sein Funk­tio­nen der Mate­rie seien.

Von den meis­ten Hirn­for­schern wird heute die Über­zeu­gung ver­tre­ten, dass psy­chi­sche und mit ihnen kor­re­spon­die­rende neu­ro­nale Pro­zesse nur ver­schie­dene Erschei­nungs­for­men ein und des­sel­ben Vor­gangs sind, und Phä­no­mene wie Denken, Fühlen oder Bewusst­sein keinen eige­nen Seins­sta­tus besit­zen, son­dern ledig­lich Funk­tio­nen des Gehirns sind, die ohne dessen Exis­tenz nicht existieren.

Bleibt die reli­giöse Über­zeu­gung, dass das Nor­men­sys­tem, wie es sich in den Zehn Gebo­ten kon­kre­ti­siert hat, seine Ver­an­ke­rung nur im Abso­lu­ten, im Gött­li­chen haben könne. Selbst Kant glaubte das. Wenn es keinen Gott gäbe, dann gäbe es keinen zwin­gen­den Grund für sitt­li­ches Ver­hal­ten. Nur die Aus­sicht auf Beloh­nung oder Strafe im Jen­seits hält uns an, uns mora­lisch zu ver­hal­ten. Die noch junge Sozio­bio­lo­gie kann jedoch anhand vieler Befunde zeigen, dass unser mora­li­sches Ver­hal­ten gene­ti­sche Wur­zeln hat.

Koope­ra­tion und Mit­ge­fühl, Selbst­lo­sig­keit und Hilfs­be­reit­schaft bilden die Keim­zel­len der Moral. Offen­kun­dig haben tie­ri­sche wie mensch­li­che Gesell­schaf­ten besser über­lebt, weil ihre Mit­glie­der zu dieser Form des Zusam­men­le­bens bereit waren: Gemein­same Nah­rungs­be­schaf­fung, Teilen in der Not, gemein­same Abwehr von Fein­den und Hilfe auf­grund von Mitleid.

Wer koope­riert erhöht die Chance, dass seine Gruppe und damit er selbst über­lebt. Solche Ver­hal­tens­wei­sen stell­ten also einen Selek­ti­ons­vor­teil dar und sind ver­erb­ter Bestand­teil unse­res Ver­hal­tens gewor­den. Mora­li­sches, sprich sozial vor­teil­haf­tes Ver­hal­ten, ist also kei­nes­falls nur Ergeb­nis von Erzie­hung, es durch­lief eine stam­mes­ge­schicht­li­che Ent­wick­lung und ist uns von Geburt an mitgegeben.

Das neue Men­schen­bild wird Abschied nehmen von der Vor­stel­lung einer unsterb­li­chen Seele und einem Geist, die ihren Ursprung in Gott haben und uns mit ihm ver­bin­den. Schließ­lich zeigen höher ent­wi­ckelte Tiere, dass auch sie schon ansatz­weise über Denk­ver­mö­gen und Bewusst­sein verfügen.

Hier zeigt sich wie­derum, dass die Kirche das Darwin’sche Kon­zept nur halb­her­zig akzep­tiert hat, denn sie hält nach wie vor an eigen­stän­di­gen, gött­lich ein­ge­flöß­ten Wesen­hei­ten wie Geist und Seele fest. Die bio­lo­gi­schen und neu­ro­lo­gi­schen Erkennt­nisse engen jedoch den Spiel­raum für meta­phy­si­sche Ein­fluss­grö­ßen, die den Men­schen über seine bio­lo­gi­sche und soziale Natur hin­aus­he­ben würden, immer mehr ein.

Wenn das, was unsere Per­sön­lich­keit aus­macht, unser Denken, unsere Gefühle, unsere Erfah­run­gen, unser Bewusst­sein von uns und dieser Welt, auch ein das Dies­seits tran­szen­die­ren­der Glaube, gebun­den sind an die neu­ro­lo­gi­schen Struk­tu­ren unse­res Gehirns, die mit unse­rem Tod zer­fal­len wie unser übri­ger Körper, dann wird es immer weni­ger plau­si­bel, dass wir etwas von uns in ein Jen­seits hin­über retten könnten.

Theo­lo­gen und viele Gläu­bige akzep­tie­ren heute meist die Erkennt­nisse der Natur­wis­sen­schaf­ten und genie­ßen als Früchte dieses Den­kens die Annehm­lich­kei­ten des moder­nen Lebens. Sie über­neh­men aber für sich nicht die ratio­nale und sys­te­ma­ti­sche Denk­weise, die diese Ergeb­nisse erst her­vor­ge­bracht hat. Vor allem die aus den Erkennt­nis­sen der Kos­mo­lo­gie und Evo­lu­ti­ons­theo­rie sich erge­ben­den phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Kon­se­quen­zen werden nicht aner­kannt. Es wie­der­holt sich, was Kepler und Gali­lei zu ihrer Zeit erle­ben muss­ten: Wenn Bibel und Wirk­lich­keit nicht über­ein­stim­men, dann muss sich die Wirk­lich­keit in Form der Wis­sen­schaft irren, nicht ein tau­sende Jahre alter Schöpfungsmythos.

Die Über­le­gen­heit einer natu­ra­lis­ti­schen Welt­sicht zeigt sich in der welt­wei­ten Gül­tig­keit. In jedem Land der Erde, unab­hän­gig von jewei­li­ger Kultur oder Reli­gion, gelten die glei­che Physik und die glei­che Bio­lo­gie. Diese welt­weite Gül­tig­keit kann man den zahl­lo­sen und grund­ver­schie­de­nen Lehren vom rech­ten Weg zum See­len­heil nicht zusprechen.

Reli­gio­nen pre­di­gen den Men­schen, was sie denken sollen, die Wis­sen­schaf­ten, spe­zi­ell die Natur­wis­sen­schaf­ten zeigen den Men­schen, wie sie denken sollen, um zu wirk­lich­keits­ge­rech­ten und men­schen­ge­mä­ßen Ein­sich­ten zu gelangen.

Men­schen­ge­mäß heißt auch anzu­er­ken­nen, dass es Fragen über die Welt und uns gibt, die wir nicht, viel­leicht nie werden beant­wor­ten können. Das Bedürf­nis nach Ant­wor­ten ist zutiefst mensch­lich und hat eine spi­ri­tu­elle Dimen­sion. Dem wis­sen­schaft­lich gepräg­ten Ver­stand soll­ten sie aber nicht widersprechen.

Der Autor ist eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für Bil­dungs­in­for­ma­tik der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Er ist Ver­fas­ser des Buches „Warum ich kein Christ sein will“ (Teia Verlag).