Argumente der Moral, die aus Sicht eines nichtgläubigen Menschen gegen die christliche Lehre und vielleicht auch gegen Gott sprechen.
Die desaströse Geschichte des Christentums und der Kirche
Wenn man auf die Geschichte des Christentums und der Kirche schaut, kommt man zunächst einmal nicht vorbei an dem einmaligen Reichtum an Architektur, Malerei, Musik und Traditionen, die dem Christentum zu verdanken sind. Diese einmaligen Werke, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, verdanken wir der Schöpferkraft gläubiger Menschen. Ich würdige daher ganz ausdrücklich das Schaffen dieser Menschen, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass sie einer Illusion anhingen. Sie wussten es damals nicht besser. Diese Menschen schafften unter großen Opfern an Gesundheit und Leben etwas, das sie und ihre Zeit überdauerte und dafür gebührt ihnen Bewunderung und große Anerkennung. Diese Kunst diente der Verehrung eines gedachten Gottes, aber inzwischen ist das ästhetisch-formvollendet zum Ausdruck kommende menschliche Sehnen nach göttlichem Halt und Trost in einer von Hunger, Leid und Kriegen geprägten Welt für mich der Grund ihrer Wertschätzung und Würdigung. Sie haben dieser Kunst inzwischen eine in ihr selbst ruhende Begründung verliehen. Das möchte ich ausdrücklich anerkennen.
Meine Bewunderung christlich-religiöser Baukunst, Musik und Malerei kann mich aber nicht davon abhalten, gleichzeitig zu sehen, mit wie viel Blut die Geschichte des Christentums und der Kirche getränkt ist. Ich will hier nur ein paar Stichworte aufzählen: Inquisition, »Hexen«verbrennungen, Versklavung von Schwarzafrikanern oder die Missionierung von Lateinamerika. Die Inquisition wütete über 500 Jahre und war »eine der grausigsten Terrormaschinen, die die Erde je gesehen hat«, wie der Theologe und Philosoph Joachim Kahl feststellt. Und die sog. Hexenverbrennungen waren das schreckliche Ergebnis des biblischen Glaubens an Teufel und Hexen, an teuflische Besessenheit und Verführung. Die Bibel formuliert hier sehr eindeutig, 2. Buch Mose, Kap. 22, Vers 17 »Eine Hexe sollst Du nicht am Leben lassen.« Zehntausende Frauen, vermutlich noch viel mehr, wurden Opfer dieses menschenverachtenden Bibel-Spruchs.
Auch die Versklavung der Millionen Schwarzafrikaner, überhaupt die Sklaverei, wird biblisch und auch päpstlich gerechtfertigt. Im Alten Testament fordert Jahwe ausdrücklich auf, die Nachbarvölker zu überfallen, um Sklaven zu erbeuten. Der Apostel Paulus wiederum ermahnt seine Gemeinde, das Sklaventum geduldig zu ertragen. Und sogar im 10. Gebot, immerhin angeblich von Gott selbst formuliert, ist wie selbstverständlich von Sklaven die Rede. Wie viel millionenfaches Leid und Sterben mit der Sklaverei verbunden war, kann kein Mensch mehr ermessen. Und – das möchte ich auch fragen – wie verträgt sich eigentlich die elende und verachtende Behandlung der Schwarzen in den so christlichen USA bis fast zum heutigen Tag mit der Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit?
Und die blutige Missionierung Lateinamerikas geht natürlich auch auf die Bibel zurück. Im Matthäus-Evangelium heißt es bekanntlich: »Darum gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes usw.« Die Zahl der Menschen, die aufgrund von biblisch-religiös motivierten Glaubenskriegen (Kreuzzüge, 30-jähriger Krieg), Inquisition, Hexenverbrennungen, Sklaverei und Missionierung (insbes. Lateinamerikas) ums Leben gekommen sind, bewegt sich in der Größenordnung von 20 bis 50 Millionen. (Siehe z.B. Lexikon der Völkermorde!)
Von Vergebung, von Barmherzigkeit gegenüber dem am Glauben zweifelnden Nächsten, von Liebe auch dem Feind gegenüber trotz gepredigter Feindesliebe – keine Spur! Dabei sind doch Barmherzigkeit und Liebe so zentrale Prinzipien der christlichen Lehre.
Viele gläubige Christen und Vertreter der Kirchen sehen das alles anders und haben für alles eine entschuldigende Erklärung. Sie sprechen von bedauerlichem menschlichem Fehlverhalten und von falschem Bibelverständnis. Überzeugen werden sie einen Menschen, der ein »normales« sittliches Empfinden aufweist und »normale« moralische Maßstäbe anlegt, nicht. Dieses Fehlverhalten und dieses angeblich falsche Bibelverständnis sind für mich Hinweise auf eine bemerkenswerte Wirkungslosigkeit und auch Widersprüchlichkeit der in dieser Religion steckenden Moral.
Diese Religion, diese ideologische Konstruktion, bildet die Ursache einer unglaublich großen Zahl an Verbrechen gegen die Menschheit, die stets im Namen des angebeteten Gottes erfolgten und die dieser angeblich barmherzige Gott doch nie verhindert hat. Auch wenn diese Religion gleichzeitig sehr vielen Menschen Trost, Hilfe und Lebenssinn gegeben hat und noch immer gibt, ist das für mich nicht im Geringsten ein Beleg für ihren Wahrheitsgehalt.
Ich sehe dabei gleichzeitig das mutige und aufopferungsvolle Bemühen unzähliger Pfarrer, Pfarrerinnen und anderer überzeugter Christen, die dieser Lehre anhängen, dabei aber nicht selten auf die Stimme ihres Herzens hörten und hören. Ungezählte Menschen, die sich auf diese Lehre beziehen, sind ohne Zweifel sozial engagiert und praktizieren Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Was ich etwas pathetisch als »Stimme des Herzens« bezeichne, ist für mich aber eher das Ergebnis einer biologischen, sozialen und kulturellen Evolution. Im Zweifel ließen diese Menschen ihr Gefühl und ihre Einsicht sprechen, statt den Weisungen von Bischöfen und Päpsten oder fragwürdigen Geboten heiliger Texte zu folgen.
Erlösung von den Sünden durch ein Menschenopfer
Hiermit spreche ich eine der Kernaussagen der christlichen Lehre an, wenn nicht überhaupt die zentrale Botschaft: Gott sendet seinen Sohn auf die Erde als Opfer, um die Sünden der Menschen stellvertretend zu übernehmen. Zu diesem Zweck wird also ein Mensch gefoltert und anschließend auf barbarische Weise hingerichtet. In der Steinzeit hatte man Menschen den Göttern und Dämonen geopfert, um diese gnädig zu stimmen. Auch in späteren Zeiten hat man noch Menschen den Göttern geopfert, bevorzugt bekanntlich Jungfrauen und Erstgeborene.
Da muss ich doch fragen: Eine solche barbarische Handlungsweise, die mich an finsterste Menschheits-Epochen gemahnt, soll ich noch heute als Angebot annehmen? Als Zeichen der »Liebe Gottes zu mir«? Ich habe mich immer wieder gefragt: Fällt einer allmächtigen, allwissenden und uns so unendlich überlegen scheinenden Gottheit nichts anderes ein als eine Hinrichtung grausamster Art? Eine Hinrichtung, um diesen angeblich notwendigen Ausgleich zwischen Schuld und Sühne herbeizuführen? Warum bringt Gott, Schöpfer allen Seins, angeblich Inbegriff unendlicher Liebe, nicht die Größe auf, mit ihm angemessener Gnade zu reagieren und zum Beispiel einfach Vergebung zu gewähren?
Es ist für mich unfassbar: Das Christentum ist eine Religion, die eine als Opfer verbrämte Hinrichtung als Beweis der Liebe Gottes zu den Menschen verherrlicht. Ich empfinde das als eine intellektuelle und moralische Zumutung ersten Ranges. Für mich ist das absolut unannehmbar!
Christliche Lehre ohne Aufklärung wäre mittelalterlich
Nicht nur ich, auch viele andere Menschen stellen fest: Die uns heute wichtigen Werte und Normen stammen gerade nicht aus der Bibel, sie sind das Ergebnis einer moralisch-ethischen Weiterentwicklung.
Welches sind die uns heute wichtigen Werte und Normen? Es sind dies wesentlich die Menschenrechte wie Meinungsfreiheit als geradezu grundlegendes Recht, das Recht auf Selbstbestimmung, Gleichheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religions- und Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und vieles andere mehr. Nichts davon findet sich in der Bibel. Die biblischen Werte stehen einem demokratischen, die Menschenrechte verbürgenden Staat geradezu entgegen.
Denn alle diese eben genannten Rechte mussten dem Christentum beziehungsweise einer politisch agierenden Kirche in verlustreichen Kämpfen abgetrotzt werden. Ich möchte folgendes fragen: Warum steinigen wir heute Ehebrecherinnen nicht mehr? Warum töten wir Homosexuelle nicht mehr? Warum werden in christlichen Ländern keine Sklaven mehr gekauft und gehalten? Im Alten Testament sind Steinigungen und das Töten von Homosexuellen vorgeschrieben, das Halten von Sklaven zumindest wie selbstverständlich erlaubt. Das Neue Testament nimmt explizit dazu keine Stellung. Zwar sagt Jesus angesichts einer Steinigung die bekannten Worte: »Wer ohne Schuld ist, der hebe den ersten Stein«. Dabei handelt es sich allerdings nachweislich um einen später der Bibel hinzugefügten Text. M.a.W.: Im Prinzip sind diese genannten amoralischen Verhaltensweisen aus biblischer Sicht nach wie vor zulässig!
Selbstverständlich lehnen selbst Christen heute die Steinigung von Ehebrecherinnen, das Töten von Homosexuellen oder das Halten von Sklaven strikt ab. Aber nun kommt mein »aber«. Die Kriterien, nach denen selbst Christen heute die Steinigung von Ehebrecherinnen, das Töten von Homosexuellen oder das Halten von Sklaven strikt ablehnen, stammen gerade nicht aus der Bibel. Sie sind ein Ergebnis der auf Vernunft gründenden Aufklärung.
Ich will damit sagen, dass die Kirche moralisch immer noch im Mittelalter stehen würde, hätte sie sich nicht den Forderungen der Aufklärung beugen müssen. Zwar hat die Kirche im Nachhinein eine ganze Reihe von Bibelstellen herangezogen – von der Nächstenliebe bis hin zu tollkühnen Uminterpretationen von eigentlich sehr eindeutigen Bibelstellen, um sich aus der Klemme zu winden. Bei solchen verwegenen Uminterpretationen denke ich insbesondere an das Tötungsgebot von Homosexuellen. Im Alten Testament wird die Todesstrafe für Homosexualität gefordert. Aber auch im Neuen Testament nennt Apostel Paulus Homosexualität ein todeswürdiges Verbrechen.
Die evangelische Kirche praktiziert in puncto Homosexualität heute das Gegenteil dessen, was die Bibel sehr eindeutig fordert. Was selbstverständlich nur zu begrüßen ist! Nur ist es nicht in Einklang zu bringen mit den doch verbindlichen Aussagen der »Heiligen Schrift«. Überzeugen kann die Kirche mit solchen oft willkürlich erscheinenden »neuen Sichtweisen« einen Nichtchristen wie mich damit nicht. Es ist für mich der hilflose Versuch, Texte zu retten, die nicht mehr zu retten sind.
Man könnte einwenden, dass die Bibeltexte immer wieder neu interpretiert werden müssen. In vielen Fällen mag das gehen. Es gibt aber zentrale Texte, die nur um den Preis einer eindeutigen Verfälschung modern gedeutet werden können. Ganz ähnliche Probleme hat der orthodoxe Islam, der in dieser Hinsicht noch vollständig dem Mittelalter verhaftet ist.
Ich halte also fest: Ohne diesen Modernisierungsschub infolge der Aufklärung stünde die christliche Lehre dort, wo heute der Islam immer noch verharrt.
Das letzte moralische Argument, das ich anführen möchte als Begründung, weswegen ich kein Christ bin, ist mit dem Stichwort Theodizee gekennzeichnet. Ich zögere ein wenig, diesen Punkt seiner scheinbaren Abgedroschenheit hier noch zu erwähnen. Aber die Theodizee ist und bleibt eines der stärksten Argumente bei der Frage nach der Existenz eines allmächtigen und barmherzigen Gottes.
Die Theodizee: Gott ist nicht barmherzig
An der Theodizee, also an der Rechtfertigung Gottes, haben sich schon ganze Heerscharen von Theologen und Philosophen die Zähne ausgebissen. Die alle bewegende Frage lautet bekanntlich: Warum lässt Gott, der angeblich die Liebe und die Barmherzigkeit verkörpert, das unglaubliche Elend auf der Welt zu?
Dem griechischen Philosophen EPIKUR (341−271 v.u.Z.) wird zugeschrieben, diese allgemeine Gottes-Problematik etwa wie folgt logisch strukturiert und formuliert zu haben
- Ist Gott willens, aber nicht fähig, das Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allmächtig!
- Ist er fähig, aber nicht willens, das Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allgütig!
- Ist er jedoch sowohl fähig als auch willens, das Übel zu verhindern? Woher kommt dann das Übel in der Welt?
Denken wir z.B. an den Holocaust mit seinen etwa fünf bis sechs Millionen Toten. Gott ließ die Ermordung eines großen Teils seines »auserwählten Volkes« zu, eines Volkes, mit dem er laut Bibel sogar einen Bund geschlossen hatte. Hat also Gott der Ermordung der Juden nur interessiert zugeschaut oder war er gar nicht in der Lage einzugreifen?
An dieser Stelle kommt als Argument dann immer, dass hier Menschen mit ihrem – angeblich – freien Willen sich versündigt hätten. Da Gott die Menschen nicht als Marionetten ansieht, lässt er sie gewähren. Ein überzeugendes Argument ist das nicht. Entlastet man doch Gott als Schöpfer des Menschen mit seinem Fehlverhalten, schiebt aber die Schuld diesen so geschaffenen Menschen zu.
Betrachten wir daher andere Übel: Denken wir an Erdbeben, Sturmfluten und Tsunamis oder Katastrophen wie Dürren oder Epidemien. Sie kosten immer wieder Hunderttausenden Menschen das Leben. Unterschiedslos rafft es Kinder und Erwachsene, Gerechte und Ungerechte, Arme und Reiche dahin. Das beliebte Argument, dass der freie Wille des Menschen das Böse verursache, greift hier also nicht. Diese Naturgewalten sind nicht durch Menschen veranlasst.
Ich will das nicht vertiefen, die Problematik ist uns allen bekannt. Was mich interessiert, ist die Frage, was sagen eigentlich die höchsten Repräsentanten der beiden großen Kirchen zu diesem Problem?
Altbischof Huber schreibt in seinem Buch »Der christliche Glaube«: »Eine abschließende Antwort auf die Theodizeefrage kann es nicht geben. Die Präsenz des Übels bleibt das Rätsel jeder Gegenwart.« Das ist immerhin ein ehrliches Eingeständnis.
Kardinal Ratzinger besuchte als Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006 Auschwitz und richtete dort an Gott die Worte: »Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?« Auch er resigniert und stellt in seinem Buch »Einführung in das Christentum« fest, »dass es aus christlicher Sicht auf die Theodizee keine direkte Antwort gebe«. Stattdessen verweist er auf die »göttliche Gnade und Weisheit«, die – wie er formuliert – »erst am Ende aller Tage offenbar würde«. Auch Papst Benedikt kapituliert also vor dieser Frage.
Ich denke, dass zu dieser Kapitulation eigentlich kein Grund besteht. Denn die einzige den Verstand befriedigende Antwort auf die Theodizee ist eigentlich ganz einfach. Logik und Erfahrung sagen uns, dass sich die angebliche Allmächtigkeit und Barmherzigkeit Gottes mit der Existenz des grenzenlosen Leids auf der Erde nicht vereinbaren lassen. Die Schlussfolgerung lautet für mich somit: Diesen Gott mit den ihm zugeschriebenen Eigenschaften allmächtig, allwissend und zugleich allgütig kann es ganz offensichtlich nicht geben. Nicht umsonst gilt die Theodizee als der »Fels des Atheismus« (Georg Büchner, 1813–1837, in Dantons Tod).
Da physisches und moralisches Übel zweifellos in der Welt in für menschliche Maßstäbe unfassbarer Größe existieren, bleibt als logische Konsequenz nur anzunehmen, dass Gott entweder nicht allmächtig ist oder nicht allgütig oder sich für die Welt und ihre Menschen nicht interessiert, also nicht willens ist, das Übel und das Böse zu verhindern. Was Menschen im christlich-abendländischen Bereich früher kaum zu denken wagten, dürfte dennoch die logisch befriedigendste Lösungsvariante darstellen: dass es nämlich diesen christlichen »Gott der Güte und der Liebe« nicht gibt.
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Systematischer und gründlicher werden diese und viele weitere Fragen zu Christentum und Religion behandelt in dem Buch »Warum ich kein Christ sein will – Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung«. Tectum Wissenschaftsverlag, 2018, 7. vollständig überarbeitete Auflage. Speziell zu obigem Beitrag finden sich Ausführungen in Kapitel III,3 und in Kapitel V,2 und 3.
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Ausführlicher führt die vorliegende Internetseite https://warum-ich-kein-christ-sein-will.de/ in das Buch ein, u.a. mit Leseproben, Lesungen und Interviews mit mir.
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