Mein »Credo«
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Diese Religion, diese ideologische Konstruktion, bildet die Ursache einer unglaublich großen Zahl an Verbrechen gegen die Menschheit, die stets im Namen des angebeteten Gottes erfolgten und die dieser angeblich barmherzige Gott doch nie verhindert hat. Auch wenn diese Religion gleichzeitig sehr vielen Menschen Trost, Hilfe und Lebenssinn gegeben hat und noch immer gibt, ist das für mich nicht im Geringsten ein Beleg für ihren Wahrheitsgehalt. Vor allem der moralische Gehalt großer Teile der Bibel bewegt sich weit unterhalb der durch Aufklärung, Menschenrechtserklärungen und staatliche Verfassungen, zum Beispiel die der Bundesrepublik Deutschland, gesetzten Standards und wird daher von mir als Maßstab meines Handelns abgelehnt. Ich empfand zeitlebens den Widerspruch empörend zwischen der verkündeten Lehre und der Jahrtausende währenden Praxis des Großteils der führenden Repräsentanten der Kirche. Ich sehe dabei gleichzeitig das mutige und aufopferungsvolle Bemühen unzähliger Pfarrer, Pfarrerinnen und anderer überzeugter Christen, die dieser Lehre anhängen, dabei aber nicht selten auf die Stimme ihres Herzens hörten und hören. Was ich etwas pathetisch als »Stimme des Herzens« bezeichne, ist für mich das Ergebnis einer biologischen, sozialen und kulturellen Evolution. Im Zweifel ließen sie ihr Gefühl und ihre Einsicht sprechen, statt den Weisungen von Bischöfen und Päpsten oder fragwürdigen Geboten heiliger Texte zu folgen.
Ich möchte hier noch einmal festhalten: Mich trennt sehr viel von den intellektuellen Zumutungen des christlichen Glaubens und dem anmaßenden politischen Anspruch der Kirchen. Mich trennt schon sehr viel weniger von einem engagierten Kirchenmann, der Nächstenliebe und Solidarität mit Schwachen und Benachteiligten tatsächlich praktiziert. Denn je mehr ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sich um Menschen in Bedrängnis und Leid kümmert, umso weniger hat er oder sie Zeit und Anlass, biblische Legenden zu verkünden. Mich verbindet viel mit einem einfachen Kirchenmitglied, dessen Bekenntnis zwar darin besteht, ganz allgemein an Gott zu glauben, dessen Bemühen sich ansonsten im Wesentlichen darin ausdrückt, ein »guter Christ« sein zu wollen, was aber meist nur heißt, dass er im wohlmeinenden Sinn ein »guter Mensch« sein will – mitfühlend, hilfsbereit, aufrichtig.
Ich selbst verwende für mich den Begriff Atheist kaum, obwohl von meiner Auffassung her eine solche Bezeichnung zutreffend wäre. Den Begriff Humanist halte ich für angemessener und aussagekräftiger. Ich definiere meine Weltanschauung weniger durch Negation einer Auffassung als vielmehr positiv durch Charakterisierung der Komponenten, die meine Weltanschauung beschreiben: ein naturalistisches Weltbild, ein säkular begründetes Wertesystem und eine strikte Diesseitsorientierung. Sie sind das Ergebnis meines »vernunftgeleiteten« Nachdenkens und das vieler anderer Menschen über die Welt und unsere Rolle darin. Ein persönlicher Gott und barmherziger Weltenlenker kommt in meinem Weltbild nicht vor, denn ich kann beim besten Willen die Grundlagen zu einem solchen Glauben nicht erkennen. Der amerikanische Politiker Robert G. Ingersoll (1833–1899) hat diesen Zwiespalt sehr treffend so auf den Punkt gebracht: »Wenn die Bibel und mein Verstand vom selben Schöpfer stammen, wessen Schuld ist es dann, dass sich die Bibel und mein Verstand einfach nicht vertragen können?« 3
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Die Überlegenheit einer naturalistischen Weltsicht zeigt sich vor allem in der weltweiten Gültigkeit ihrer Grundlagen. In jedem Land der Welt, unabhängig von der jeweiligen Kultur, gilt die gleiche Physik und – wenn sie denn wissenschaftlich betrieben wird – auch die gleiche Biologie. Diese weltweite Gültigkeit kann man den zahllosen und grundverschiedenen Lehren vom »rechten Weg zum Seelenheil« gewiss nicht zusprechen. Religionen predigen den Menschen, was sie denken sollen, die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften zeigen den Menschen, wie sie denken sollen, um zu wirklichkeitsgerechten und damit dem Menschen dienlichen Erkenntnissen zu gelangen.
Bei aller Problematik auch einer natur- (bzw. wirklichkeits-)wissenschaftlichen Orientierung unseres Denkens und Handelns ist festzuhalten, dass wir über keine verlässlichere Möglichkeit verfügen, uns diese Welt zu erklären und so einzurichten, dass sie dereinst mal ein Ort werden könnte, der als biblische Hoffnung mit dem Begriff Paradies bezeichnet wird. So utopisch dieser Gedanke uns heute auch erscheinen mag – wenn der Sinn des Lebens darin gesehen wird, »glücklich zu werden und anderen ebenso zu Freude und Glück zu verhelfen«, und wenn gleichzeitig »Leid und Schmerz von Mensch und Tier so weit wie möglich gemindert werden« – warum sollte nicht in ferner Zukunft diese Erde ein diesseitiger »Garten Eden« sein können? Warum sollte es ausgeschlossen sein, dass im Diesseits das wirklich wird, was die Religion für ein angebliches Jenseits nur verspricht? Allein moderne Landwirtschaft und Medizin haben hungernden und kranken Menschen mehr an realem »Trost« bieten können als Glaube und Kirche je vermochten.
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Der physische, psychische und moralische Zustand unserer Gesellschaft wäre mit Sicherheit weitaus befriedigender, wenn die in der Summe ungeheuren geistigen Anstrengungen unzähliger Theologen, das angebliche Wort Gottes, wie es in der Bibel niedergelegt ist, mit der Logik und der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, sich auf die Bewältigung konkreter, die Menschen tatsächlich bedrängender Probleme gerichtet hätten. Welchen Ertrag das intellektuelle Vermögen eines Apostel Paulus, Thomas von Aquin oder etwa Martin Luther hätte erbringen können, wenn sie ihre geistigen Energien in die Lösung tatsächlich existierender Nöte und Übel und nicht künstlich geschaffener theologischer Probleme investiert hätten, kann man nur erahnen. Ihr Ziel war des Menschen Heil und sie beteuerten, die Wahrheit zu verkünden. Leider haben sie ihre Talente an einem untauglichen Objekt entfaltet. Was würden wir vermissen, wenn es die Theologie nicht gäbe?