Wilmar Thiemann: Religion – ReLÜGion: Verkündigung wider besseres Wissen

Ich möchte auf ein Buch auf­merk­sam machen, das es in sich hat. Es wurde von einem Lehrer für Evan­ge­li­sche Reli­gion ver­fasst, der immer wieder fest­stel­len musste, wie sein an theo­lo­gi­schen und reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­er­geb­nis­sen ori­en­tier­ter Reli­gi­ons­un­ter­richt von den Ver­tre­tern der Kirche in ihren Bekennt­nis­sen und Pre­dig­ten kon­ter­ka­riert wurde. Er fragte sich, wie Ver­tre­ter der Kirche wider bes­se­res Wissen erfun­dene Geschich­ten als Worte Gottes aus­ge­ben können. Die Ant­wort darauf gibt sein Buch.

In der Ankün­di­gung des Titels bei Amazon heißt es u. a.: »Der Autor behaup­tet begrün­det, dass wäh­rend der letz­ten zwei­ein­halb Jahr­tau­sende Glau­bens­in­halte kon­stru­iert und wider bes­se­res Wissen als gött­li­che Offen­ba­run­gen wei­ter­ge­ge­ben wurden. Er belegt dies mit For­schungs­er­geb­nis­sen der uni­ver­si­tä­ren Theo­lo­gie und der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft. Er betrach­tet zudem das Kon­strukt der jüdisch-christ­li­chen Reli­gion unter dem Aspekt mensch­li­cher Wün­sche nach Macht, Mei­nungs­füh­rer­schaft und Deu­tungs­ho­heit, wie sie von den jewei­li­gen reli­giö­sen Eliten seit jeher erho­ben wurden. Er zeigt, wie die Geschich­ten des Alten und Neuen Tes­ta­ments so ver­fasst wurden, dass sie den aktu­el­len reli­giö­sen Inten­tio­nen der Eliten ent­spra­chen und wie sie mit Ver­weis auf erfun­dene Reden Gottes beglau­bigt wurden.


Thie­mann erlebt, was vielen Theo­lo­gen wider­fuhr. Je mehr er sich mit den Texten der christ­li­chen Glau­bens­lehre befasste, umso mehr zwei­felte er an ihrem Wahr­heits­ge­halt. Der Autor tat schließ­lich das, was wenige kri­tisch gewor­dene Theo­lo­gen schaff­ten: Er bekennt sich zu seinen Ein­sich­ten und Über­zeu­gun­gen. Viele uni­ver­si­täre Theo­lo­gen haben nicht den Mut und behal­ten ihre Erkennt­nisse für sich. Nur wenige von der Kirche beru­fene Theo­lo­gen stell­ten Wahr­heit und Wahr­haf­tig­keit über das Amt. Eine der bekann­tes­ten unter den evan­ge­li­schen Theo­lo­gen dürfte der Göt­tin­ger Gerd Lüde­mann sein.
In einem Fazit macht der stu­dierte Theo­loge Thie­mann anhand des zwei­ten Teils des Glau­bens­be­kennt­nis­ses deut­lich, wie reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lich und auch theo­lo­gisch wider­legte Pas­sa­gen den­noch ohne Gewis­sens­kon­flikte von Pfar­rern den Gemein­den als ver­pflich­tende Glau­bens­in­halte zuge­mu­tet werden. Er ver­weist etwa auf fol­gende Text­ele­mente: Gottes ein­ge­bo­re­nen Sohn, emp­fan­gen durch den Hei­li­gen Geist, gebo­ren von der Jung­frau Maria, hin­ab­ge­stie­gen in das Reich des Todes, auf­er­stan­den von den Toten, auf­ge­fah­ren in den Himmel. Der Autor ver­mu­tet wohl zu Recht, dass diese aller mensch­li­chen Erfah­rung wider­spre­chen­den Aus­sa­gen von vielen Men­schen nicht mehr geglaubt werden. Ver­mut­lich auch nicht von nicht weni­gen reli­giö­sen Reprä­sen­tan­ten. Sie behar­ren aber trotz der Absur­di­tät dieser Aus­sa­gen auf dem gespro­che­nen Bekennt­nis – bräche doch ansons­ten die Geschäfts­grund­lage ihrer Insti­tu­tion und damit ihre Vor­macht­stel­lung voll­ends weg.

Der Autor macht es sich nicht leicht. Seinen Anspruch nach Wahr­haf­tig­keit löst er durch eine Fülle von Aspek­ten ein, unter denen er seine Vor­würfe und sein Anlie­gen betrach­tet. Es ist ein sehr theo­lo­gi­sches Werk gewor­den. Dabei ist es dem Autor gelun­gen, ohne die übli­che unver­ständ­li­che Theo­lo­gen­spra­che aus­zu­kom­men. Wer schritt­weise erle­ben möchte, wie ein einst gläu­bi­ger Christ sich im Laufe seiner Berufs­tä­tig­keit – als Reli­gi­ons­leh­rer – in einen über­zeug­ten, nur der Wahr­heit und Wahr­haf­tig­keit sich ver­pflich­tet füh­len­den Men­schen wan­delt und dieses mit guten Grün­den nach­voll­zieh­bar macht, dem sei diese Schrift sehr empfohlen.

Die Ableh­nung der christ­li­chen Glau­bens­lehre bedeu­tet für den Autor aller­dings nicht, dass er die Bibel in ihrer Gesamt­heit ver­dammt. Denn die Bibel ent­hält eine Fülle von Lebens­weis­hei­ten und Bei­spiele schö­ner und tra­gi­scher Lebens­er­fah­run­gen. In der Ankün­di­gung des Buches heißt es des­halb:
»Unge­ach­tet seiner Dia­gno­sen drückt der Autor seine Wert­schät­zung der Schrif­ten des Alten und Neuen Tes­ta­ments als Zeug­nisse mensch­li­chen Den­kens aus, die in Teilen ihren Anspruch nicht ver­lo­ren haben. Sie stel­len ohne Zwei­fel auch heute noch rele­vante anthro­po­lo­gi­sche Grund­fra­gen und beleuch­ten viele Aspekte des Mensch­seins. Er bedau­ert aber, dass die „zeit­lo­sen Wahr­hei­ten“ von den Kir­chen für ihre eige­nen Ziele instru­men­ta­li­siert wurden und werden.«

In einer Schluss­be­mer­kung resü­miert der Autor: »Der Ver­trau­ens­ver­lust ist nach­hal­tig, denn einmal ver­lo­ren gegan­ge­nes Ver­trauen lässt sich nur sehr schwer wieder her­stel­len. Leider geht mit der Abwen­dung von den Kir­chen als Reak­tion auf die mög­li­cher­weise intui­tiv wahr­ge­nom­mene sys­tem­im­ma­nente Lüge auch ein Stück Kultur ver­lo­ren. Die Mythen der ver­gan­ge­nen Jahr­tau­sende sind anthro­po­lo­gisch von einer unge­heu­ren Aus­sa­ge­kraft und können uns helfen, uns selbst zu ver­ste­hen. Bei­spiel­ge­schich­ten und Gleich­nisse sind lite­ra­ri­sche Bei­träge zu Themen der Ethik und Moral. Los­ge­löst von einem numi­no­sen Wahr­heits­an­spruch haben sie uns etwas zu sagen.«

Trotz aller Abkehr vom her­kömm­li­chen Glau­ben sieht der Autor daher eine Zukunft für eine neue Form von Kirche, wenn er abschlie­ßend for­mu­liert: »Mit Auf­gabe des Wahr­heits­an­spruchs, der Ein­sicht in die struk­tu­relle Lüge in Theo­lo­gie und Kirche und dem Ent­schluss, zur Wahr­haf­tig­keit zurück­zu­keh­ren, könnte die Basis für eine Orga­ni­sa­tion gelegt werden, die sich – durch­aus mit Bezug auf reli­giöse Texte – in den Dienst der Men­schen­würde und Huma­ni­tät stellt.«

Das Buch ist unter dem oben genann­ten Titel in jeder Buch­hand­lung erhält­lich, ebenso selbst­ver­ständ­lich auch über Internet-Buchversender.